75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Dienstag, 17. September 2024, Nr. 217
Die junge Welt wird von 2939 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 22.08.2024, Seite 12 / Thema
Prostitution

Sex sells

Ein florierendes Geschäft – aber nicht für alle. Die politische Ökonomie der Prostitution (Teil 1 von 2)
Von Peter Schadt
12-13.jpg
Einer der wohl bekanntesten Orte »klassischer« Prostitution in Deutschland, die »Große Freiheit« in Hamburg-St. Pauli

Zur Fußballeuropameisterschaft im vergangenen Juli wurden bereits im Vorfeld deutlich mehr als 10.000 Prostituierte in Deutschland erwartet, die vor allem aus Osteuropa und Lateinamerika kommen sollten. Der Berufsverband Sexarbeit (BESD) befürchtete dabei jedoch nicht, dass es während der Spiele zu mehr kriminellen Handlungen, Menschenhandel oder »sexueller Ausbeutung« kommen könnte. Das wirft Fragen auf. Denn einerseits weiß der Berufsverband selbst offensichtlich sehr gut um die Besonderheit seines Gewerbes, wenn er schon vorsorglich darauf besteht, zu verkünden, dass es nicht zu dem kommt, was der Sache selbst offensichtlich nicht sehr fremd ist: Menschenhandel. Andererseits fragt man sich auch, was der BESD eigentlich unter sexueller Ausbeutung versteht, wenn er diese als abweichende, zur Prostitution an sich also nicht zugehörige Kategorie versteht.

Körper gegen Geld

Prostitution ist der Verkauf sexueller Handlungen gegen Geld, bei der Zustimmung zu sexuellen Handlungen durch Geld mobilisiert wird.¹ Sex als Willensverhältnis von zwei erwachsenen Personen ist rechtlich erlaubt, unterliegt keiner staatlichen Sanktion und kommt in der bürgerlichen Gesellschaft in verschiedenen Varianten, innerhalb wie außerhalb verbindlicher Beziehungen, zwischen verschiedenen oder auch dem gleichen Geschlecht vor. Die Ausnahme von sexuellen Handlungen an und mit minderjährigen Personen, die erlaubt sein kann, wenn die minderjährige Person zustimmt, bestätigt die Regel, dass es dem bürgerlichen Staat auf die Zustimmung seiner Bürger zum Sex ankommt.

Die Befriedigung sexueller Interessen gegen den Willen von Personen oder an Menschen, die aufgrund ihres Alters als nicht zustimmungsfähig gelten, ist vom Staat untersagt; er schützt mit seiner Gewalt die freie Person vor sexuellen Übergriffen (Paragraph 177, StGB). Das Vorliegen eines Strafkataloges für Vergehen gegen die entsprechenden Paragraphen zeugt vom regen Verstoß der Bürger gegen derlei Verbote – etwa Vergewaltigung.

Die Prostitution ist inzwischen eine staatlich erlaubte, freiwillige Betätigung der Prostituierten zum Gelderwerb. Weder wird der Wille einer Person unmittelbar mit Gewalt übergangen oder gebrochen – das kommt in der Prostitution zwar regelmäßig vor, hier greift dann aber das staatliche Verbot der Zwangsprostitution, des Menschenhandels und der Vergewaltigung. Dieser Konsens wird bei der Prostitution mit dem Geld mobilisiert: Die Prostituierte stimmt der Benutzung ihres Körpers für das Geld zu. So wird aus Sexualität eine Tätigkeit gegen Geld, mit entsprechenden Folgen. Der Freier will für möglichst wenig Geld einen möglichst weitreichenden Zugriff auf einen fremden Körper sowie das Gefühl, dass genau das auch von der anderen Seite gewünscht ist, während die Prostituierte für jede Leistung entlohnt werden oder die gewünschte Handlung gar nicht erst durchführen will. Während die Freier für ihr Geld eine möglichst breite Palette an »Dienstleistungen« empfangen wollen, sind die Frauen darauf bedacht, zu begrenzen, was sie »leisten« müssen: Es ist nicht einfach ein anderes, sondern ein gegensätzliches Interesse.

Das ist die antagonistische Kooperation, die der Staat in jedem Arbeitsverhältnis mit seinem Vertragsrecht und damit gewaltbewährt garantiert, dass nämlich beide Seiten auf die Einhaltung ihrer Leistung verpflichtet werden. Weil es in diesem Fall um die Sexualität der Frauen geht, ist die Übergriffigkeit über die von der Prostituierten gesetzten Grenzen hinaus permanent möglich, zumal der Sex fast immer unbeobachtet stattfindet.

Kein kapitalistisches Geschäft

Der Staat verbietet mit seiner Gewalt die unmittelbare Gewaltanwendung durch und gegen den Willen seiner freien und gleichen Bürger. Zum Verbot der Durchsetzung ihrer Interessen mit Gewalt kommt das Gebot der Interessenverfolgung mit dem dafür staatlich zur Verfügung gestellten Mittel: dem Kreditgeld als Privatmacht im Hosentaschenformat, mit dem der Staat seine Bürger ermächtigt, auf jeden Reichtum der Gesellschaft zuzugreifen. Als einziges Mittel der Bedürfnisbefriedigung fällt diese Ermächtigung der Bürger, ihren Materialismus zu verfolgen, mit der Verpflichtung aufs Geld zusammen.

Weil sich im normalen Gang der kapitalistischen Ökonomie notwendigerweise eine ganze gesellschaftliche Hierarchie bildet, die sich schon an der Oberfläche in Habenichtse bis Superreiche und alles Mögliche dazwischen diversifiziert, gibt es in einer Wirtschaft des Privateigentums ein ständiges Interesse an Geld und dessen Vermehrung. Insofern wird in dieser Ökonomie auch jedes unökonomische Verhältnis danach abgeklopft, inwiefern es als Springquelle für Geld tauglich gemacht werden kann. Das gilt sowohl für die Seite, die damit beschäftigt ist, aus ihrem Geld mehr Geld zu machen, aber natürlich auch für die Abteilung der Gesellschaft, für die der abstrakte Reichtum wirklich darin aufgeht, Zirkulationsmittel zu sein – die Geld also erhält, um es unmittelbar für ihre verschiedenen Bedürfnisse auszugeben und insofern auch einen ständigen Bedarf nach Möglichkeiten hat, sich neues Geld zu beschaffen. So tritt dann auch die Sexualität in den Blick freier Bürger, deren Kauf oder Verkauf dann einfach qua praktischer Tat zur Arbeit gemacht wird, zu einer Möglichkeit unter vielen wird, Geld zu verdienen und natürlich auch auszugeben:

1. Der Freier mag sich einsam fühlen, eine Kompensation für sein Ego suchen, oder Macht ausleben wollen; wie auch immer sich sein Bedürfnis richtig bestimmen mag,² trifft es im Geld auf sein ökonomisches Mittel. Von Ökonomie muss man indes nicht viel verstanden haben, um zu erkennen, dass die allgemeine Verpflichtung aufs Geld am Ende des Tages dafür sorgt, dass selbst das unökonomische Willensverhältnis zum Sex auf der anderen Seite durch den Willen zum Geld ersetzt werden kann.

2. Dass es dabei ohne Gewalt zugehe, kann sich nur zurechtlügen, wer darauf beharrt, dass ja der Wille der Prostituierten nicht einfach mit Gewalt übergangen werde. Einen Schritt vermittelter geht es in einer Gesellschaft der Freien und Gleichen dann doch zu: Die Gewalt des Staates, die jeden erwachsenen Menschen, unabhängig von Geschlecht und finanziellen Mitteln auf ebendiese verpflichtet, ist die gewaltträchtige Grundlage eines freien Menschen mit freiem Willen, der sich zum Sex gegen Geld bereit erklärt; der Ausschluss von allem, was Menschen zum Leben brauchen, bei gleichzeitiger Stiftung von abstraktem Reichtum in staatlich garantierter und portionierter, gedruckter oder digitaler Form, ist die notwendige politische Dienstleistung, um dieses Verhältnis gangbar zu machen. Der Entschluss, Sex mit Menschen zu haben, mit denen Frau nur für Geld Sex hat und ansonsten niemals haben würde, verlangt von der Prostituierten den geistigen Salto mortale: zu wollen, was sie nicht will – »wollen zu müssen« als gedanklich emotionale Zumutung und -richtung. So verlang es das Gewerbe und macht aus der psychiatrischen Diagnose einer »Dissoziativen Störung« geradezu ein Werkzeug von Prostituierten, dieses Verhältnis zu ertragen.³

Egal wie oft das Geld vom Freier zur Prostituierten die Hand wechselt und wie viel Umsatz der Verkauf von Sex macht: Prostitution bleibt bis zu diesem Punkt in dem Sinne eine unkapitalistische Angelegenheit, denn Freier geben hier Geld aus, ohne Aussicht, dass sich die Summe am Ende vermehrt. Nach der Befriedigung des Bedürfnisses ist der Geldbeutel einfach leerer. Auch auf seiten der Prostituierten bleibt die entscheidende Vermehrung von Geld durch fremde Arbeit aus. Zwar gibt sie im Gegensatz zu ihren proletarischen Schwestern nicht (nur) Arbeitskraft, sondern gleich die intimste Verfügungsmöglichkeit über ihren Körper auf Zeit ab, aber ökonomisch hat sie nach dieser Seite das gleiche bittere Los gezogen: Statt Vermehrung findet auch hier das Geld als reines Zirkulationsmittel Verwendung. Was sie durch den Verkauf ihrer »Sexarbeit« erwirbt, reicht so lange, bis sie wieder damit anfängt.

Nach dieser Seite ist der Kauf und Verkauf von Sex eine Unterart unproduktiver Transaktionen, von der Beschaffungs- bis zur Elendsprostitution: In diesem Gewerbe reicht das Geld im Durchschnitt eben für die nächste Dröhnung, die Abzahlung des Kredits vom Zuhälter, aber sicher nicht für die Reproduktion im klassischen Sinne.⁴

Quelle des Profits

Das Geschäft mit dem Sex hat aber natürlich »Potential« für einige dem Kapitalismus deutlich mehr entsprechende Anwendungen. So sehen es zumindest die Profis in Sachen Gewalt und Geschäft und machen aus dem angeblich »ältesten Gewerbe der Welt« eine moderne Springquelle des Profits. Dabei zeigen sich die Professionalisierer und damit auch die Profiteure der Prostitution leidlich unbeeindruckt von der politökonomischen Tatsache, dass es sich beim Verkauf Sex gegen Geld nicht um Arbeit in dem Sinne handelt, dass hier ein Beitrag zur gesellschaftlich notwendigen Reproduktion der Gesellschaft geleistet werden würde und sich ein Kapitalist den Mehrwehrt aneignet durch die Differenz von Lohn und geschaffenem Wert. Als (meistens) Männer der Tat müssen sie aber auch gar nicht genau wissen, was sie tun, wenn sie Prostituierte einfach zu »Sexworkerinnen« machen. Ganz im Gegenteil:

Zuhälter organisieren die »Sexarbeiter« – vor allem Frauen, aber auch Transpersonen und (junge) Männer haben ihren Anteil – nach dem Vorbild der Fabriken und Büros, die jeder aus der Anschauung kennt. Wobei der Dienst, den Prostituierte zu leisten haben, für einen Zuhälter natürlich nicht dem Freier dient, sondern ihm selbst: Ihre »Investition« soll sich mehren. Egal, ob es sich bei ihren Etablissements um einen gewalttätig gesicherten Straßenstrich handelt, der gegen andere »Geschäftsmänner« verteidigt wird; egal, ob sie ganze »Lusthäuser« bauen und Zimmer vermieten; egal, ob sie ihren angestellten »Sexarbeiterinnen« einen richtigen Lohn zahlen und die sich in gewerkschaftlichen Organisationen zusammenschließen: Immer geht es darum, Geld mit Prostitution zu mehren.

Da die meisten Zuhälter die rechtliche Selbstständigkeit ihrer »Damen« allerdings zu schätzen wissen, verstehen sie sich nicht als deren sozialversicherungspflichtige Arbeitgeber, sondern als »Geschäftspartner«. Auf diese Weise gibt es alle möglichen Mit- und Zuverdiener, wie es sich für ein ordentliches Geschäft gehört: Vermieter, die nie im Leben Zuhälter sein wollen, sondern nur Verrichtungskabinen zur Verfügung stellen, für deren Gebrauch sie sich weder praktisch noch moralisch verpflichten lassen; Sicherheitsdienste, die dem Charakter dieses Geschäfts entsprechend alle Hände voll damit zu tun haben, die gekaufte Übergriffigkeit von der zu unterscheiden, die das bezahlte Verhältnis übertritt und entsprechend damit umzugehen haben; Reinigungsfirmen, die für die nötige Hygiene sorgen; Gastronomie, die das sexuelle Angebot mit entsprechenden Dienstleistungen ergänzt und so weiter und so fort.

Damit der Profit möglichst üppig ausfällt, übernehmen die »Geschäftsmänner« bei ihren Kollegen aus der Industrie und dem Handel die ganze Palette an Maßnahmen, die diese erfolgreich in ihren Geschäften anwenden: Sie nehmen einfach ihre gekauften Laufhäuser oder auch nur gemietete Motelzimmer als Kapital und rechnen sich aus, dass sich ihr Investment dann am meisten lohnt, wenn die entsprechenden Voraussetzungen stimmen: Wenn die zur Verfügung gestellten Räume möglichst die ganze Zeit genutzt werden, der Arbeitstag ihrer Angestellten möglichst lang sowie der Lohn im Verhältnis zum erwirtschafteten Umsatz möglichst gering ist. So finden sich die arbeitssoziologischen Klassiker von der »Ausdehnung des Arbeitstages« bis zur »Verdichtung der Arbeit« auch in den Bordellen des Landes, was für den, der es so sehen will, nur ein weiterer Beweis dafür ist, dass Prostitution eigentlich auch »nur« eine Lohnarbeit unter anderen ist.

Hinweise auf eine umfassende Digitalisierung in den Bordellen selbst finden sich bisher nicht. Zwar existiert ein Startup mit dem gleichen Namen wie sein Produkt: »Cronosignum – die App für den Puff«, das bereits seit 2018 eine in Deutschland programmierte Software anbietet, die bei der Verwaltung des Etablissements helfen soll. Mit der App können Bordellbetreiber »in Echtzeit die Raumbelegungen in ihrem Etablissement nachvollziehen und Reports für die Finanzbuchhaltung erstellen«.⁵ Dafür werden zusätzlich zu der App, die natürlich nicht gekauft, sondern monatlich per Abo geliehen wird, auch gleich Türsensoren angeboten, damit garantiert kein Kunden- oder Rauchergang mehr unentdeckt bleibt. Zahlen zum Erfolg der Software finden sich allerdings nicht. Laut der Firmenhomepage stammen die letzten Pressestimmen aus dem Gründungsjahr.

Von einer Warenproduktion, bei der auf Arbeitskraft reduzierte Arbeiterinnen als jederzeit austauschbare Zahnrädchen unter dem Kommando des Kapitals Waren herstellen, die dann verkauft werden, kann bei der Prostitution keine Rede sein. Was die formal selbständigen Prostituierten auf der Straße bekommen, hat mit einem »Wert der Ware Arbeitskraft« (Marx), damit sie morgen wieder ihrer Arbeit nachgehen können, so wenig gemeinsam, wie die praktische »Reproduktion« einer Beschaffungsprostitution im permanenten Drogenrausch mit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit in der Industrie.

Auch am oberen Ende der Prostitution ergeben sich die Hunderte von Euro für eine Escortdame pro Abend nicht aus irgendwelchen ökonomischen Wertbestimmungen, es handelt sich vielmehr um Liebhaberpreise: Die Höhe des Preises selbst wird zum Gebrauchswert für den Freier, der es sich leisten kann und sich entsprechend das Selbst- und damit Statusbewusstsein als »Gönner« zulegt. Dass es den CEOs dieser Welt mehr ins Selbstbild passt, die Kommilitonin ihrer Tochter als die Mutter ihrer Putzfrau zu beschlafen, sollte dabei nicht umgekehrt als Indiz dafür genommen werden, dass die höheren Preise der einen sich doch so etwas wie einer höheren »gesellschaftlich notwendigen durchschnittlichen Arbeit« (Marx) zur Herstellung von Studentinnen verdankt.

Fleischschau im Netz

Das Internet als Fleischschau erweitert und modifiziert damit diese Sorte Geschäft, zuerst durch die

1. Kundenwerbung. Bereits seit mehr als zehn Jahren stellen Forscherinnen wie Nicola Doering fest, dass die »Anbahnung prostitutiver Kontakte« zunehmend über das Internet stattfindet. Die Ergänzung und teilweise Verlagerung von Zeitungsannoncen und Straßenkontakten hin zum Internet ist aber nicht nur eine reine Verschiebung des Immergleichen, sondern hat Auswirkungen auf das Angebot, das sich »ausdifferenziert und vergrößert«. Das bezieht sich auf verschiedenste Fetische, die jetzt sichtbar werden – vom Fuß oder Amputationsfetisch bis zum Spiel mit Erbrochenem.⁶ Das wird einerseits ermöglicht durch den größeren potentiellen Kundenkreis, der sich im Internet auf die Suche nach entsprechenden Nischenangeboten macht, als auch verlangt, um sich als »Dienstleisterin« von einer Flut gleichlautender Angebote abzugrenzen und sichtbar zu halten. Die Werbung findet dabei auf speziellen Websites für Prostitution, über eigene Homepages sowie über Profile auf sozialen, oft auch Datingnetzwerken statt. Diese Werbungen fallen zwar samt und sonders unter den Paragraphen 119 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (grob anstößige und belästigende Handlungen) und damit unter das Verbot von Prostitutionswerbung, werden aber von den Strafverfolgungsbehörden toleriert.

2. Nicht nur die Prostituierten und ihre Zuhälter nutzen die digitalen Techniken. In Freierforen machen sich die Kunden der Prostituierten überhaupt erst als soziale Gruppe sichtbar und tauschen sich über ihre Erfahrungen aus. Themen sind dabei sowohl die Beurteilung der »Leistungen« der verschiedenen Prostituierten und ihrer Etablissements als auch die Bereitschaft, bestimmten Sexualpraktiken nachzukommen – und wie viel beispielsweise der Kondomverzicht den Freier kostet. Für die Freier selbst fungieren diese Foren als Communitys, in denen das eigene Selbstbild gebildet und gepflegt wird sowie als »Stiftung Warentest« der etwas anderen Art. Für die Prostituierten können die Rezensionen dabei sowohl einen Marketingeffekt als auch rufschädigend wirken. Wo die Kundenwerbung von den Prostituierten also Sprach- sowie Medienkenntnisse verlangt, verlangt der Blick auf die Foren gleich noch Wissen im Onlinereputationsmanagement.

3. Die stärkere Anonymität sowie die Möglichkeit, Dienste anzubieten ohne vorherigen Kontakt in das Milieu, senken die Hemmschwelle für Neueinsteigerinnen.⁷ Das gilt nicht nur für die völlig anonymen Varianten wie den Verkauf von getragener Unterwäsche oder ähnlichem, das gegen Geld verschickt wird. Das gilt ebenso für die Möglichkeit, diverse Dienstleistungen anzubieten, die artverwandt, aber selbst gar nicht unter klassische Prostitutionskontakte fallen: den Verkauf selbstgemachter Fotos und Videos, allein oder mit Drehpartnerin bzw. -partner sowie kommerzieller Camsex. Dass dieser inzwischen gerne durch per App auf dem Smartphone steuerbare Sexspielzeuge ergänzt wird, was eine neue Form der haptischen Schnittstelle erzeugt, wurde von dem Sozialwissenschaftler Howard Rheingold schon Anfang der 1990er Jahre prognostiziert und als »Teledildonik« bezeichnet.

Anmerkungen

1 Ausgenommen sind bei dieser kurzen Untersuchung alle Formen der Prostitution in der und durch die Ehe. Wer sich dafür interessiert, wird ausführlich fündig bei: Sheila Jeffreys: Die industrialisierte Vagina. Die politische Ökonomie des globalen Sexhandels. Hamburg 2014

2 Vgl. Nicola Döring: Prostitution in Deutschland: Eckdaten und Veränderungen durch das Internet. In: Zeitschrift für Sexualforschung 27 (2014), S. 99–127, hier S. 104

3 Wer wissen will, wie das funktioniert: Folge 93 des Podcasts Große Töchter: Huschke Mau über das Nordische Modell, Juli 2023. Siehe auch: https://huschkemau.de

4 Siehe eine der wenigen empirischen Untersuchungen: John J. Potterat u. a.: Mortality in a Long-term Open Cohort of Prostitute Woman. In: American Journal of Epidemiology, 159 (2014), No. 8, S. 778–785

5 Die App für den Puff. Cronosignum digitalisiert Bordelle, deutsche-startups.de, 14.5.2018

6 Vgl. Döring (Anm. 3), S. 117

7 Berndt Keller; Hartmut Seifert: Atypische Beschäftigungsverhältnisse in der digitalisierten Arbeitswelt, WSI Mitteilungen, (2018), H. 4, S. 287–297

Peter Schadt schrieb an dieser Stelle zuletzt am 25. August 2023 über die Widersprüche »linker Migrationskritik«.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (22. August 2024 um 16:23 Uhr)
    Dass Menschen sich verkaufen müssen, ist in Ausbeuterordnungen nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Der doppelt freie Lohnarbeiter verkauft seine Arbeitskraft nicht freiwillig. Es ist der Zwang, anders nicht überleben zu können, der ihn dazu bringt, sich auspressen lassen zu müssen. Dieses Handeln unter Zwang erklärt die kapitalistische Gesellschaft für absolut rechtens. Um später bei ähnlich menschenunwürdigen Umständen moralisierend zu ergänzen, dass eines gar nicht ginge: Gewalt. Zwang ohne Gewalt – was für eine perfide Hilfskonstruktion für eine Situation, in der Menschen für Geld tun müssen, was sie ohne den Zwang zum Überleben nie tun würden. Die ganze Politische Ökonomie der Prostitution besteht darin, wie ein menschliches Wesen so hingebogen werden kann, dass es sich in eine kaufbare und verkaufbare Sache verwandelt. So einfach ist das in der wertegeleiteten Gesellschaft: Der Mensch ist kein denkendes und fühlendes Wesen mehr, er ist ein Ding, geboren zum Gebrauchen und Wegwerfen. Was für eine hochmoralische Ordnung!

Ähnliche: