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Aus: Ausgabe vom 22.08.2024, Seite 16 / Sport
Tischtennis

Ein ewig Unvollendeter

Fühlt sich richtig an: Zum Karriereende des deutschen Tischtennisspielers Timo Boll
Von René Hamann
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Immer war da mindestens ein besserer Chinese: Timo Boll

Das Ende war nicht schön, aber absehbar. Im nachhinein ließe sich sogar mutmaßen, dass das deutsche Tischtennisteam bei den Olympischen Spielen von Paris ohne ihn besser aufgestellt gewesen wäre, schließlich hatte Patrick Franziska, der für Timo Boll seinen Platz räumen musste, im Vorfeld den Weltmeister und jetzigen Olympiasieger Fan Zhendong geschlagen, wenn auch nur bei einem kleineren Turnier, dem Saudi Smash.

Aber es sollte nun mal so sein: Der größte deutsche Tischtennisspieler seit Jörg Roßkopf, vielleicht sogar seit Eberhard Schöler, dem Vizeweltmeister 1969, Timo Boll, sollte noch einmal die Bühne bekommen, die ihm zusteht. Im Mannschaftswettbewerb sollte er an der Seite von Dimitrij Ovtcharov und Europameister Dang Qiu noch einmal sein Land vertreten und möglichst was holen. Aus letzterem wurde letztlich nichts: Deutschland unterlag im Viertelfinale den Schweden recht deutlich mit 0:3.

Damit ging das deutsche Team – die Damen wurden immerhin vierter – zum ersten Mal seit 2004 bei Olympia leer aus, was die Medaillen betraf. Die Deutschen, jahrelang die ersten Herausforderer der Supermacht China, sind 2024 in Paris ins Hintertreffen geraten – überflügelt von den starken Schweden, gegen die sie nicht den Hauch einer Chance hatten, aber auch von den juvenilen Franzosen, die mit Félix Lebrun vielleicht den kommenden Weltstar in ihren Reihen haben. Auch wenn China am Ende wieder fast alles gewann: Die Luft oben wird auch für sie dünner, aber die Deutschen werden nicht die sein, die sie stürzen.

Und so wird, nach der recht eindeutigen Niederlage gegen Anton Källberg, lustigerweise Schwager des ausgestochenen Franziska, auch das Riesentalent Timo Boll ein ewig Unvollendeter bleiben. Einer, der beinahe alles gewonnen hat, aber eben nur beinah; einer, der vom Thron der Weltrangliste grüßte, aber nie Weltmeister wurde oder Olympiasieger. Immer war da mindestens ein Chinese, der besser war. Ein Werner Schlager, Weltmeister aus Österreich, ist Boll nie geworden.

Und nun ist er 43 Jahre alt, spielt noch eine Saison für Borussia Düsseldorf, seinen Stammverein, eine Art FC Bayern des deutschen Tischtennis in dem stets etwas merkwürdigen Mannschaftswettbewerb der deutschen Bundesliga. 20 EM-Titel und 42 Medaillen bei internationalen Meisterschaften hat er gewonnen. Jetzt ist Ende. »Es fühlt sich richtig an«, sagte Boll.

Die Frage wird sein, was von ihm bleibt. Zum einen sein Spielstil, stets versuchend, das Spiel des Gegners zu lesen und zu zerstören. Ein Kreativer wie jetzt Truls Möregårdh war er indes nie. Zum anderen das Leitbild, denn Timo Boll war stets ein Botschafter seines Sports, fair bis zum Anschlag, allüren- und skandalfrei. Ein Dopingfall wie Ovtcharov war er ebenfalls nie. Nahbar war er, immer bemüht, sein Tischtennis auch für die Jugend nachvollziehbar zu machen. Und offen war er, so offen, dass er selbst nach China reiste, um es mit den Großen aufzunehmen, um zu lernen.

Und er sparte auch nicht mit Kritik an den chinesischen Methoden, besonders an den Qualitäten ihrer Beläge zu schrauben. Irgendwoher musste die chinesische Dominanz ja kommen.

Legendär sind seine Siege gegen die Großen aus dem Reich der Mitte, besonders die gegen Ma Long. In der Statistik freilich waren das nur Einzelfälle. Besonders in den entscheidenden Momenten waren die Chinesen stets da, wo sie hinwollten, wie die Igel gegen die Hasen. Bei der WM 2011 hatte er sich die meisten Chancen ausgerechnet und scheiterte auch erst im Halbfinale gegen Zhang Jike mit 1:4. Das Halbfinale bei der WM 2021 war schon eher eine Überraschung, dort scheiterte er an Möregårdh äußerst knapp mit 3:4.

Und Boll war der Beweis, dass man mit Tischtennis gutes Geld verdienen konnte. Ein Millionär mit Schläger, wenn auch ein vergleichsweise kleiner. Das schaffte außer ihm hierzulande nur besagter Ovtcharov, der andere Weltranglistenerste aus Deutschland.

Wie geht es jetzt weiter im deutschen Tischtennis? Im Oktober stehen die Europameisterschaften in Linz an. Boll wird nicht dabei sein. Dass Dang Qui seinen Titel verteidigen wird, ist angesichts seiner momentan schwachen Form mehr als fraglich. Vielleicht kommt Patrick Franziska weit, vielleicht greift der neue Older Statesman Ovtcharov als Bolls Nachfolger noch einmal nach der Krone; wahrscheinlich ist das alles nicht. Auch Franziska ist schon 32 – den Deutschen fehlt der Nachwuchs, den die Schweden nicht allein in Person von Truls Möregårdh, dem Silbermedaillengewinner von Paris, haben. Von den Franzosen reden wir erst gar nicht.

Insofern stehen den Deutschen mittelschwere Jahre bevor – der Nachwuchs fehlt. Bei den Damen hat Annette Kaufmann überzeugt, wo Nina Mittelham wieder einmal Schwäche zeigte. Bei den Herren gibt es ein paar junge Talente, aber niemanden, der an Lebrun oder Möregrådh hereinreichen könnte. Und schon gar nicht an Timo Boll. Der allerdings geht jetzt erst mal auf Safari – mit Kumpel und Sportrentner Dirk Nowitzki.

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  • Leserbrief von Kolja Rottmann aus Steinfurt (23. August 2024 um 14:20 Uhr)
    Källberg ist nicht der Schwager von Franziska, sondern Karlsson. Annette Kaufmann heißt Annett. Nina Mittelham hat Schwäche gezeigt? Sie hat sich verletzt, oder ist das mit Schwäche gleichzusetzen. Ovtcharov als Dopingfall zu deklarieren ist mehr als grenzwertig, wenn man den Fall genau betrachtet, zudem wurde er freigesprochen. Bitte keinen Artikel verfassen, wenn man überhaupt keine Ahnung hat. Danke!
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (22. August 2024 um 11:03 Uhr)
    Timo Boll, eine lebende Legende des Tischtennissports, beendet nun seine außergewöhnliche Karriere. Über zwei Jahrzehnte prägte er den internationalen Tischtennissport wie kaum ein anderer. Mit seiner unnachahmlichen Technik, seinem strategischen Spielverständnis und seiner sportlichen Fairness inspirierte er eine Generation von Spielern weltweit. Boll war nicht nur vielfacher Europameister und Weltcup-Sieger, sondern auch ein Vorbild an Beständigkeit und Leidenschaft. Seine Erfolge auf der internationalen Bühne, insbesondere gegen die übermächtige Konkurrenz aus China, machen ihn zu einem der größten europäischen Tischtennisspieler aller Zeiten. Auch außerhalb des Sports bleibt er ein Symbol für Fleiß, Demut und Durchhaltevermögen.

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