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Aus: Ausgabe vom 23.08.2024, Seite 8 / Ansichten

Nägel mit Köpfen

Scholz in der Republik Moldau
Von Reinhard Lauterbach
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Die Agenturen betonten, dass es der erste Besuch eines deutschen Kanzlers in der Republik Moldau seit zwölf Jahren gewesen sei. Natürlich ist alles angenehmer, als in Berlin einer sich zoffenden Ampelkoalition vorzustehen, und guten Wein gibt es in Moldau auch, aber das ist kein hinreichender Grund für die Visite von Olaf Scholz in Europas – vom Sonderfall der Ukraine abgesehen – ärmstem Land.

Den hat Scholz am Mittwoch mit hanseatischem Understatement benannt: Es gehe darum, Moldau eine klare »europäische Perspektive« zu geben und »die Beitrittsprozesse, die für einige Länder vor langer Zeit gestartet waren, nun auch endlich zu Ende zu führen«. Und wer hat diese Beitrittsprozesse so in die Länge gezogen und mit tausend »Reformbedingungen« belastet? Eben, unter anderem dieser Kanzler und seine Vorgängerin. Jetzt sieht sich dieselbe EU offenbar in Zugzwang. Denn im Herbst soll in Moldau ein Referendum über den künftigen politischen Globalkurs des Landes stattfinden: pro EU oder nicht? Die Stimmung im Land aber ist traditionell volatil; es stehen sich in der Gesellschaft ungefähr gleichstarke Lager an »Prorussen« und »Proeuropäern« gegenüber, und die mit EU-Unterstützung gewählte Präsidentin Maia Sandu kann nicht aus dem Stand garantieren, das liefern zu können, wozu sie installiert worden ist: Moldau endgültig von der Peripherie Russlands zur Peripherie der EU zu machen.

Die Sache wird dadurch kompliziert, dass die im Lande verbliebene Bevölkerung überwiegend der älteren und überproportional prorussisch eingestellten Generation angehört. Wer jünger und mobiler ist, hat seit dreißig Jahren mit den Füßen abgestimmt und die Arbeitsmigration gewählt – ungefähr ein Drittel der Einwohner. Diese Menschen mehren die Sozialprodukte ihrer Aufnahmeländer und nicht das moldauische, weshalb Sandu am Rande von Scholzens Auftritt auch schüchtern anmerkte, dass der Westkurs doch bitte auch die Entwicklung Moldaus fördern möge und nicht nur die der Aufnahmeländer.

Letzteres ist nämlich die Realität und der Hintergrund der in Kürze beabsichtigten Unterzeichnung eines deutsch-moldauischen Migrationsabkommens. Das würde die Migration zwischen Moldau und Deutschland auf ökonomisch nützliche Menschen, sogenannte Fachkräfte, etwa im Pflegebereich, beschränken und die Abschiebung unerwünschter Armutsflüchtlinge erleichtern, denen sowieso keine Chancen auf Asyl gegeben werden. Dieses Abkommen muss dabei möglichst noch vor einem möglichen EU-Beitritt Moldaus unterzeichnet werden. Denn danach wäre Menschen mit moldauischem Pass der Zugang zur EU auf Dauer nicht mehr zu verweigern. Jetzt setzt der Ukraine-Krieg mit seinem ungewissen Ausgang die EU unter Zugzwang, Nägel mit Köpfen zu machen. Wenn man schon in Serbien einem geopolitisch unsicheren Kantonisten wegen eines Lithium-Vorkommens den Hof machen muss. Dumm, dass Moldau nichts dergleichen zu bieten hat.

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (23. August 2024 um 11:29 Uhr)
    Ähnlich wie die Ukraine gehört Moldau zu den ehemaligen sowjetischen Staaten, die sich zwar schnell für unabhängig erklärten, diese Unabhängigkeit jedoch weder wirtschaftlich noch gesellschaftlich und politisch voll umsetzen konnten. Die Folge war eine massive Abwanderung, insbesondere aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage. Vor allem junge und gebildete Menschen verließen das Land, während die ältere und schwächere Bevölkerung zurückblieb. Der Staat konnte nicht einmal das Lebensniveau aufrechterhalten, das zu Zeiten der Sowjetunion erreicht worden war. Seither fehlen jegliche Investitionen, und Moldau ist zu einem vernachlässigten Staat geworden. Das Land befindet sich in einer tiefen wirtschaftlichen Krise, und die Gesellschaft ist stark gespalten. Mit Transnistrien steht ein Teil des Landes unter russischer Kontrolle, und prorussische Kräfte versuchen, die Stimmung der Bevölkerung zugunsten Russlands zu beeinflussen. Eine EU-Mitgliedschaft würde vor allem eines bedeuten: zusätzliche Kosten und Probleme, die in der EU derzeit niemand braucht.
  • Leserbrief von R.Brand (23. August 2024 um 08:05 Uhr)
    Arbeitsmigranten aus Moldawien sind auch sehr viele nach Russland ausgewandert, denn dort gibts die Nachfrage und die höhere Kaufkraft mit den Löhnen, die sie dort erhalten. Nur: Bei den Wahlen mitmachen dürfen nur die Arbeitsmigranten aus dem Wertloswesten, nicht die, die nach Russland gingen. Abgesehen davon, vom Verbot wichtiger Oppositionsparteien und -bündnisse des Regimes von Sandu.

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