»Willkommen in der Hölle«
Von Helga Baumgarten, JerusalemB’Tselem begann die Arbeit an dem Bericht »Willkommen in der Hölle« im November 2023. In den wenigen Tagen des damaligen Waffenstillstandes wurden israelische Geiseln aus Gaza freigelassen, im Austausch gegen palästinensische Gefangene aus Gefängnissen in Israel. Die Welt hat sich seitdem ausschließlich auf die freigelassenen israelischen Frauen und Mädchen konzentriert. Die palästinensischen Gefangenen wurden in gut kolonialistischer Manier vergessen. Mitarbeiter von B’Tselem sprachen aber mit ihnen und waren schockiert über die Berichte, die sie über die unsagbaren Misshandlungen hören mussten.
Seitdem erhält die israelische Menschenrechtsorganisation ununterbrochen neue Informationen über genau dieselben Foltermethoden, egal in welchem Gefängnis. Sehr schnell war ein klares Muster erkennbar. Im März entschied sich B’Tselem zur raschen Umsetzung des Projekts, das mit einem Riesenarbeitsaufwand innerhalb von fünf Monaten mit der Publikation des Reports Anfang August abgeschlossen wurde.
Shai Parnes erklärte mir die Arbeit im Detail, als ich am Dienstag das Büro von B’Tselem in Talpiot in Westjerusalem besuchte. Auf der Basis von 55 Berichten von freigelassenen Palästinensern (30 aus der Westbank, 21 aus Gaza und fünf aus Israel) zeichne sich eine »systematische institutionalisierte Politik des kontinuierlichen Missbrauchs und der Folter aller palästinensischer Gefangener« ab, über die »Willkommen in der Hölle« detailliert Auskunft gibt, so Parnes. In einzelnen Kapiteln analysiert B’Tselem, wie Israel die Inhaftierten misshandelt. Ein Netz von mehr als einem Dutzend Lagern wurde dazu geschaffen. Menschen werden dorthin gebracht in der Absicht, sie erbarmungslos Schmerz und Leiden auszusetzen. Im Klartext: Es handelt sich um Folterlager. Die Misshandlungen reichen von willkürlicher Gewalt, sexuellen Übergriffen, Demütigungen und Erniedrigungen, Aushungern und Schlafentzug bis hin zur Verweigerung adäquater medizinischer Behandlung. Internationales Recht verbietet dies unmissverständlich, wie B’tselem im Detail und unter Bezug auf die einzelnen Rechtsquellen aufzeigt.
Der Bericht benennt die zentrale Rolle, die »Sicherheitsminister« Itamar Ben-Gvir dabei spielt. Unterstützt wird er vom gesamten Kabinett und von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Spätestens seit Oktober 2023 wird diese Dehumanisierung der Palästinenser von Politikern propagiert und in der breiten Öffentlichkeit akzeptiert. Eine besondere Rolle spielt die sogenannte Initial reaction force (IRF), von Palästinensern schlicht Todeskommando genannt. IRF ist aktiv seit 2010, vor allem im Gefängnis Ketziot im Negev und in Ofer bei Beitunia südwestlich von Ramallah. B’Tselem berichtet für den Zeitraum ab Oktober von mindestens 60 Toten in israelischer »Haft«, 48 davon aus Gaza, zwölf aus der Westbank bzw. aus Israel. Niemand wurde dafür zur Verantwortung gezogen.
Seit 1948, also seit der Nakba und der Gründung des Staates Israel, werden die Palästinenser aus politischen Gründen in Haft genommen, immer wieder zuerst und vor allem in »Administrativhaft«, das heißt ohne Anklage und ohne reguläres Gerichtsverfahren. Der Bericht weist ausdrücklich darauf hin. Vor dem Oktober 2023 gab es 5.192 sogenannte Sicherheitsgefangene, 1.319 davon saßen in Administrativhaft. Im Juli 2024, also vor Abschluss des Berichtes, war die Zahl auf 9.623 angestiegen, darunter 4.781 administrative Häftlinge. Seit Oktober sind Tausende von Menschen festgenommen, über wechselnde Perioden festgehalten und wieder freigelassen worden. B’Tselem fordert die Staaten der Welt und alle internationalen Institutionen auf, die »sofortige Beendigung der Grausamkeiten gegen die Palästinenser in israelischen Gefängnissen« durchzusetzen »und das israelische Regime, das dieses System betreibt, als Apartheidregime anzusehen, das beendet werden muss«.
Helga Baumgarten ist emeritierte Professorin für Politikwissenschaften an der Universität Birzeit nördlich von Jerusalem im Westjordanland und Autorin mehrerer Standardwerke zum Nahostkonflikt. Dies ist ihr achter Beitrag in der Reihe »Briefe aus Jerusalem«. Teil sieben über die Khalidi-Bibliothek erschien in der Ausgabe vom 17. August.
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