In jedem Ende steckt ein Neuanfang
Von Martin KüpperWas ist überhaupt die dialektische Methode, wie sie Karl Marx im »Kapital« entwickelte, und woher kommt sie? Das Bedürfnis, sich diese alte Frage zu stellen, entspringt keinen spitzfindigen Erwägungen. Gerungen wird um die beste Interpretation der dialektischen Methode seit Marx’ Tod.
Die Liste der Vorschläge umfasst mehr Regalmeter, als Marx und Engels selbst der Nachwelt hinterlassen haben. Jede Interpretation ist selbst ein politischer Akt. Aus ihr ergeben sich Konsequenzen für die politische-wissenschaftliche Bildung.
Mit dem Ende des historischen Sozialismus hat sich die Ausgangslage aber verändert. So hat der Bruch von 1989/91 den Bemühungen, dem Marxschen Denken auf die Schliche zu kommen, zwar keinen Knick beschert, die politische Dringlichkeit des Diskurses im deutschsprachigen Raum stumpfte allerdings ab. Zum einen setzten sich die Diskussionen in der akademischen Welt fest. Hier dominieren bis heute Ansätze, die das Philosophische an Marx hervorheben und ihn ganz nah an Hegel heranrücken. Zum anderen mauerten sich Traditionslinien, Schulen und Forschungsrichtungen in ihre lokalen Zirkelwesen ein und kultivierten jeweils ihren genuinen Marx.
Warum, fragt Franz Heilgendorff in seiner kürzlich erschienenen Dissertation »Kategoriale Kritik«, soll man dieser Situation noch eine Publikation hinzufügen? Im Grunde sei zu Marx’ »Kapital« bereits alles gesagt worden, und alle Bemühungen um eine materialistische Dialektik haben sich vor der Geschichte blamiert. Aber in jedem »Ende ist ein Neuanfang versteckt, der es nicht nur erlaubt, die erkenntnistheoretischen Begründungselemente revolutionärer Theorie freizulegen, sondern auch die Eigenheiten der marxschen Dialektik«. Und das gelingt Heilgendorff, indem er fragt, wie Marx das Verhältnis von Kategorie und Begriff sowie zur außerbegrifflichen Wirklichkeit entwickelte.
Sind Kategorien dasselbe wie Begriffe? Was bezeichnen sie? Wenn das klar ist, dann kann gesagt werden, »wie eine Wissenschaft in ihrem eignen, inneren Zusammenhang zu entwickeln wäre, so dass sie zugleich Kritik des Gegenstandes (…) wie Kritik der Wissenschaft ist«.
Heilgendorffs Zugang ist erfrischend, weil er die ausgetrampelten Pfade verlässt und zeigt, dass in Ost wie West dieses Problem nicht angemessen formuliert wurde, wobei die Überlegungen des späten Jindřich Zelený und des späten Hans Heinz Holz zu diesen Fragen stärker hätten involviert werden können.
Anhand der Kategorie-Auffassungen von Aristoteles und Hegel, und deren Verarbeitung bei Marx zeigt Heilgendorff in drei Teilen auf, wie letzterer sein Kategorien-Verständnis in einem mühseligen Lernprozess entwickelte. Mit philologischem Feingefühl vollzieht er nach, wie Marx die von der Philosophie gebildeten Kriterien des spekulativen Denkens auf sie selbst anwendet. Marx’ Kritik an Hegels Mystizismus bestehe demnach nicht darin, dass dieser Philosoph war. Dessen Mangel äußere sich vielmehr darin, dass die bürgerliche Gesellschaft durch ihn unzureichend analysiert wurde und er nicht der Gefahr entging, seine gesellschaftliche Wirklichkeit zu verklären. Auf diese Weise wird Marx sich auch gegen die politische Ökonomie wenden. So blieb den Ökonomen verborgen, dass auch das Geld nur Ausdruck eines historischen Produktionsverhältnisses ist. Es kann auch wieder verschwinden, wenn die Arbeit anders als über den Markt vergesellschaftet wird.
Die Kategorien der politischen Ökonomie reproduzieren nur die Alltagsvorstellungen über den Bau der Gesellschaft und verewigen diese. Wer kennt nicht den Spruch, der Markt regle das schon? Was soll das besagen? An dessen Stelle rückt bei Marx eine Kritik solcher Kategorien. Möglich wird dies durch eine logische Form, die für den Alltagssprachgebrauch ungewohnt »Begriff« genannt wird. Dieser sei nicht als Wort für etwas zu verstehen. Vielmehr ist der durch Marx im »Kapital« erarbeitete Zusammenhang der Kategorien ein systematisch zusammengesetztes Ganzes. Durch die Kategorien und ihre Darstellung wird so der Begriff einer Sache entfaltet. An Marx’ Begriff des Kapitals etwa wird deutlich: Es ist nicht als bestimmte Summe Geld definierbar, sondern nur als gesellschaftliches Verhältnis, in dem durch die kapitalistische Produktion von Waren und mittels der Aneignung des Mehrwerts aus Geld mehr Geld wird.
So zeige sich, dass das Kapital sowohl das »System der politischen Ökonomie« sei als auch der von Marx geformte Begriff der »gedanklich reproduzierten Wirklichkeit«. Diese systematische Darstellung wäre undenkbar ohne das ihr Zugrundeliegende, den »Prozess des sich realisierenden und (selbst-)verwertenden Wertes und [dieser] ist als gesellschaftliche Formsubstanz die abstrakt menschliche Arbeit«. Denn mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln werde die gesellschaftlich notwendige Arbeit nicht planvoll realisiert, sondern vollzieht sich naturwüchsig über den Markt. Die Form, die sie dabei annimmt, ist zwar menschengemacht, aber alle Seiten müssen den Verwertungsgesetzen gehorchen. Alles verkehre sich: Nicht wir meistern unsere gesellschaftlichen Beziehungen, sondern werden von ihnen beherrscht.
Neu an Heilgendorffs Studie ist, dass minutiös nachvollzogen wird, wie bei Marx Gegenstand und Methode ineinandergreifen und damit dessen Kritik möglich wurde. Seine Unterscheidung von Begriff und Kategorie erlaubt es, den komplizierten und widerspruchsvollen Vorgang zu begreifen, in dem unser Leben Form gewinnt. Und dies in einer Form, in der klar wird, dass Bildung allein nicht ausreicht, um die gesellschaftliche Wirklichkeit zum Besseren zu verändern, sondern nur die kollektive Umwälzung der die Gesellschaft fundierenden Praxis.
Franz Heilgendorff: Kategoriale Kritik. Zur Bedeutung von Kategorie und Begriff in der dialektischen Methode bei Marx. Dietz-Verlag, Berlin 2023, 286 Seiten, 30 Euro
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