Schändliche Schandlisten
Von Ralf HutterJetzt ist es raus: Julian Assange ist ein Journalist. Diese Feststellung in einer Hintergrundsendung des Deutschlandfunks vom 14. August lässt aufhorchen, wenn auch nicht wegen ihres trivialen Gehalts, sondern wegen der Person, die die Feststellung traf: Katharina Viktoria Weiß ist Sprecherin von »Reporter ohne Grenzen« (ROG).
»›Reporter ohne Grenzen‹ hatten Schwierigkeiten mit der Definition«, sagt Weiß in dem 20minütigen Radiobeitrag, in dem es um die Einschätzung der juristischen Verfolgung des Wikileaks-Mitbegründers ging. Der Deutschlandfunk erklärt: »Dass diese Einordnung von Julian Assange als Journalist und von Wikileaks als Medienorganisation auch von einigen Experten nicht von Anfang an akzeptiert wurde und bis heute zum Teil nicht akzeptiert wird, habe mit dem Wandel der Medienbranche zu tun«, um dann Weiß im O-Ton sagen zu lassen: »Es musste, glaube ich, erst mal begriffen werden, was Wikileaks ist. Dass es sozusagen kein klassisches Medium war, das diese Informationen zuerst geleakt hat, sondern dass es quasi diese Plattform gab, die dann mit Medienschaffenden zusammengearbeitet hat. All diese eher neuartigen Zusammenhänge, Begriffe wie ›Hackertum‹ und so was, die haben dazu geführt, dass es neue Evaluationen und Bewertungen für diesen Zusammenhang geben musste.«
Allerdings wurde die vermeintliche Komplexität des Status von Wikileaks durch ROG jahrelang eher erhöht, indem die Organisation Assange immer wieder als »Herausgeber« statt als Journalisten bezeichnete. Diese Bezeichnung steht auf deutsch nicht für jemanden, der eine Internetplattform zum Hochladen von Dokumenten betreibt, die er dann zum Teil an journalistische Medien weiterleitet (was nur ein Teil von Assanges Tätigkeit war, aber der journalistische Teil wurde ja von ROG bestritten).
Wie ernst ROG die eigene Umdefinition von Assanges Wirken nahm, wurde am 21. November 2023 in einer Berliner Buchhandlung deutlich. Da stellte die italienische Investigativjournalistin und jahrelange Wikileaks-Mitarbeiterin Stefania Maurizi ihr Buch über ihre bahnbrechenden Recherchen zur länderübergreifenden und zum großen Teil mit illegalen Mitteln betriebenen strafrechtlichen Verfolgung gegen den Australier vor (siehe jW-Interview vom 9.12.2023). Die Veranstaltung war auch von ROG beworben worden, und der damalige Geschäftsführer der deutschen Sektion, Christian Mihr, trug nach Maurizis Vortrag die Aktivitäten und Haltungen seiner Organisation zum Fall Assange vor.
Ausweichende Antworten
Aus dem Publikum kam dann Kritik: Warum fand sich im Online-»Barometer« für Pressefreiheit der deutschen Sektion weder in der Liste der »Journalisten in Haft« noch bei den »Medienarbeitern in Haft« ein Eintrag zu Großbritannien? Und warum stand in der ebenfalls »Barometer« genannten Länderliste der ROG-Weltzentrale bei Großbritannien in beiden Kategorien eine Null? Mihrs Antwort fiel so ausweichend aus, dass eine zweite Person die Frage wiederholte.
Der ROG-Geschäftsführer wich der Frage zunächst wieder aus und wies darauf hin, dass seine Sektion sich auch »hinter verschlossenen Türen« für Assange einsetze. Später erwähnte er, das Thema bei Bundeskanzler Olaf Scholz angesprochen zu haben, allerdings ohne dessen Antwort zu nennen. Mihr berichtete zudem, dass er jedes Mal, wenn er Assange verteidigt habe, von ROG-Mitgliedern kritisch angesprochen worden sei. Die einzige Antwort auf die Publikumsfrage war: »Ich werde das als Feedback mitnehmen.« Als der Moderator später die Veranstaltung mit dem Satz beendete: »Ich denke, der ROG-Internetauftritt könnte sich bald ändern«, verzog Mihr ganz kurz gequält den Mund; er war offenbar nicht mal fähig, das Thema wegzulächeln.
In der Solidaritätsbewegung für Julian Assange ist das Problem seit Jahren bekannt. Laut einer Person aus diesen Kreisen wurde der deutschen ROG-Sektion von der Pariser Zentrale des Weltverbandes, der das französische Kürzel RSF (für Reporters sans frontières) trägt, die Sprachregelung vorgegeben, Assange nicht als Journalisten zu bezeichnen. Auf die Frage, inwieweit es da einen Dissens zwischen der Deutschland-Sektion und der Zentrale gebe, schrieb mir Christian Mihr am Tag nach der Buchvorstellung ausweichend: »Reporter ohne Grenzen bezeichnet Julian Assange nicht als Journalisten, sondern als Verleger bzw. Herausgeber von Wikileaks. Auch zahlreiche andere Pressefreiheitsorganisationen sowie die meisten großen Medien weltweit bezeichnen Assange nicht als Journalisten.« Darauf komme es ja aber hinsichtlich seiner Rechte, und somit seiner Inhaftierung, nicht an: »Auch juristisch spielt es keine Rolle, ob Assange Journalist ist oder nicht, obwohl Kritiker teilweise so argumentieren.«
Doch ROG spielt damit diesen Kritikern nicht nur in die Hände – durch die Weigerung, Assange als Journalisten zu bezeichnen, ermöglichte die Organisation in ihrer Statistik Großbritannien auch eine weiße Weste. Jetzt, da der ehemalige Isolationshäftling frei ist, kann er als Journalist bezeichnet werden, ohne dass das eine Konsequenz für die Schandliste jener Länder hat, die Journalisten einsperren.
Gibt es nun eine neue Sprachregelung der Weltzentrale – und wenn ja, seit wann? Und wie verbindlich sind solche Vorgaben aus Paris eigentlich für eine Landessektion? Auf diese Fragen kommt von ROG eine überraschende Antwort: »Bis heute bezeichnen wir Assange als Publisher/ Herausgeber. Dementsprechend wird Julian Assange im RSF-Barometer der Pressefreiheit unter ›Medienmitarbeitende‹ geführt«, teilt die Sprecherin Katharina Viktoria Weiß mit, die schon im Deutschlandfunk zu hören war. Tatsächlich ist Assange nun in besagter Übersicht der Weltzentrale für das Jahr 2023 erwähnt. Im Jahr zuvor war das noch nicht der Fall. Auf Nachfrage bestätigt Weiß: »Da für Julian Assange weder unsere Kategorie Journalist noch Medienmitarbeiter wirklich greift, wurde er lange Zeit nicht im Barometer von Reporter ohne Grenzen geführt. Allerdings haben wir dies im Frühsommer 2024 neu bewertet und führen ihn schlussendlich als Medienmitarbeiter.« Frühsommer passt ganz gut – am 24. Juni konnte Assange das Londoner Gefängnis verlassen.
Aber wie kann dieselbe Person, die kürzlich im Radio Assange als Journalisten bezeichnet hat, nun das Gegenteil sagen? Genaugenommen gibt es die entsprechende Aussage im Radiobeitrag nicht wörtlich, aber auch der Deutschlandfunk hatte Weiß so verstanden. Der Sender hielt nämlich zwischen ihren O-Tönen bezüglich ROG fest: »Inzwischen habe man sich entschieden: Assange sei ein Journalist und Wikileaks eine journalistische Organisation.« Die ganze Passage aus Weiß’ Aussagen und den vom Deutschlandfunk eingefügten Zwischentexten ergibt nur Sinn, wenn die Sprecherin im Interview irgendwie vermittelt hat, dass ihre Organisation Assange als Journalisten betrachtet. Gegenüber junge Welt formuliert sie nun, dass Assange »aufgrund seiner journalismusähnlichen Tätigkeit unter das Mandat von Reporter ohne Grenzen fällt«. Die Fragen nach eventuellen Sprachregelungen aus Paris beantwortet sie nicht, wie schon Christian Mihr im November.
Irgendwie »Journalist«
Den Begriff »journalismusähnliche Tätigkeit« zitiert Weiß aus einer ROG-Pressemitteilung von 2019. Eine Internetsuchmaschine findet fast keine anderen Verwendungen dieses Begriffs. Die Kommunikationswissenschaft versteht darunter Moderationen, Präsentationen und »Unterhaltungskommunikation«. Die Bundeszentrale für politische Bildung schrieb 2016: »Im Prinzip kann jeder, der Zugang zum Internet hat, journalismusähnlich aktiv werden und eigene Inhalte publizieren.« Und die »Stiftung Warentest« berichtete 2023 zum Thema Mitgliedschaft in der Künstlersozialkasse (die Sozialversicherungsbeiträge für Kunstschaffende und Medienleute übernimmt) über eine Frau, die sich eingeklagt hatte, weil sie erfolgreich argumentierte, dass sie »eine dem Journalismus ähnliche Tätigkeit ausübt«. Es handelte sich um eine Hebamme, die kostenpflichtige Onlinevideokurse anbot, in denen sie erklärte und zeigte, wie Babys, bei denen das Stillen nicht klappt, richtig an die Brust angelegt werden. ROG steckt also einen der größten Enthüller aller Zeiten in eine vage Kategorie von Leuten, die Videotutorials, Blogs und Facebook-Einträge erstellen.
Die Pressefreiheitsorganisation beließ es in den vergangenen Jahren aber nicht bei dieser speziellen Wortwahl und einem Trick bei Inhaftiertenlisten, die kaum jemand kennt. Parallel zum Einsatz für Assanges Freilassung schadete sie wiederholt seinem Ruf. Auch Weiß konnte es im aktuellen Deutschlandfunk-Interview nicht lassen. Der Sender textete zur Erläuterung der vermeintlichen Komplexität bei der Bewertung von Wikileaks und Assange: »Hinzu sei das Persönliche gekommen, dass manche habe zögern lassen, Assange zu unterstützen«, um Weiß dann sagen zu lassen: »Viele Anteile an der umstrittenen Person Julian Assange, wo man eben nicht wusste: Möchte man sich jetzt zu schnell auf eine Seite schlagen, wo vielleicht noch nicht alle Informationen da sind?« Das ergibt keinen Sinn, denn von ROG/RSF wird nicht erwartet, Assange gegen den 2010 erhobenen Vorwurf der Vergewaltigung in Schutz zu nehmen, sondern dessen publizistischen Rechte zu verteidigen, und dazu gab es nie einen nennenswerten Informationsmangel.
Am 20. Februar, als in London eine wichtige Gerichtsverhandlung im Fall Assange anstand, blamierte sich ROG ebenfalls im Deutschlandfunk, diesmal in einem Liveinterview. Da lieferte die langjährige Journalistin und Russland-Expertin Katja Gloger vom Vorstand der deutschen ROG-Sektion eine ganze Reihe der üblichen Diffamierungen. »Assanges Methoden sind immer wieder in der Kritik gewesen, auch von Journalistinnen und Journalisten«, raunte sie zum Thema Quellenschutz ohne jegliche Erläuterung, wer da welche Methoden kritisiert hatte. Ein paar Minuten später führte sie aus: »Wir wissen ja auch, dass sich viele seiner alten Anhänger, auch bei Wikileaks, von ihm abgewandt hatten wegen seiner sehr extremen Methoden. Dazu gehören die 2016 veröffentlichten E-Mails aus den Servern der Demokratischen Partei während des Wahlkampfs Hillary Clinton/Donald Trump. Mails, die Hillary Clinton so sehr geschadet hatten. Es besteht nach wie vor der Verdacht, dass diese gehackten Mails vom russischen Geheimdienst stammten und dass Assange dies wusste.«
Diese substanzlosen Aussagen sind peinlich für jede Journalistin und besonders für ROG. Wer Ahnung von Journalismus hat, weiß, dass es für den Wert und die Berechtigung einer Veröffentlichung egal ist, woher die Informationen kommen (solange sie authentisch sind) und mit welcher Motivation jemand sie einem Medium liefert. Es ist auch kein bisschen »extrem«, E-Mails der Demokratischen Partei der USA zu veröffentlichen, und schon gar nicht journalistisch kritikabel, Hillary Clinton zu schaden. Wer warum nicht mehr mit Assange zusammenarbeiten wollte, spielt ebenfalls überhaupt keine Rolle bei der (zumal rechtlichen) Bewertung seiner journalistischen Errungenschaften. Diese Pseudokritiken sind seit Jahren in großen deutschen Medien üblich. Den Gipfel der journalistischen Assange-Diffamierung erklomm wohl im Februar Stefan Kornelius. Der Politikchef der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte am zweiten Tag der Londoner Anhörung einen Kommentar mit der Überschrift: »Dieser Mann ist ein Gefährder«. Der Text ist wenig mehr als eine Aneinanderreihung von Boshaftigkeiten und Verdrehungen, Tim Röhn, Leiter des Investigativressorts der Welt, lobte ihn auf der Plattform X gleichwohl als »sehr guten Kommentar«. Auch Kornelius behauptete, Assange sei »am wenigsten ein Journalist und mehr ein Hacker und Aktivist«, sowie: »Die Publikation von einer Viertelmillion Datensätzen widerspricht allen journalistischen Grundsätzen.«
Die Realität sieht hingegen so aus: Assange wurde schon 2007 Mitglied der australischen Journalistengewerkschaft, was im Dezember 2010 – also nach der aufsehenerregenden Veröffentlichung der Viertelmillion Datensätze – auch vom australischen Gewerkschaftsdachverband gewürdigt wurde. Sogar Journalismuspreise hat Assange mit seinen Enthüllungen gewonnen.
Nur ein »Spion«
Der Streit um Wikileaks ist seit langem einer um journalistische Rollenbilder. Assanges offen politischer Ansatz wird als Aktivismus und somit als unjournalistisch kritisiert. Dass ROG diese Haltung aber nicht ursächlich wegen einer bestimmten Begriffsdefinition einnimmt, legt der Fall Pablo Gonzalez nahe.
Auch dieser Fall hat in die ROG-Schandlisten der Länder, die Presseleute inhaftieren, keinen Eingang gefunden. Der spanische freie Journalist, der schon für mehrere größere Medien gearbeitet hat, wurde Ende Februar 2022 von der polnischen Polizei an der ukrainisch-polnischen Grenze verhaftet. Angeblich wollte er zu Kriegsflüchtlingen recherchieren. Dem Sohn russischer Eltern, der auch einen russischen Pass besitzt, wurde ohne Erläuterung Spionage für Russland vorgeworfen. Laut Medienberichten hatte er noch Wochen vorher, aber auch in früheren Jahren, für spanische Medien im Osten der Ukraine gearbeitet, und auch in Russland und von Russland besetzten Gebieten soll er früher unterwegs gewesen sein.
Zwar setzte sich der RSF-Weltverband irgendwann für Gonzalez ein und kritisierte zum ersten Jahrestag seiner Verhaftung die »besonders harten Haftbedingungen« (Videoüberwachung in der Zelle, kaum Besuche) und den Status als »gefährlicher Gefangener«. Allerdings hielt das spanische Onlinemagazin Público im Dezember 2022 fest, die Organisation führe ihn nicht als inhaftierten Journalist, weil unbekannt war, ob er wegen seiner journalistischen Arbeit eingesperrt worden sei. Bis heute hat die spanische RSF-Sektion vier Pressemitteilungen veröffentlicht, in denen Gonzalez’ Inhaftierung kritisiert wird, Polen stand gleichwohl nie auf der Schandliste der Organisation. Statt dessen konnte das Land im Mai dieses Jahres in der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit um zehn Plätze auf Rang 47 aufsteigen, weil sich »der politische Kontext für den Journalismus verbessert« habe.
Noch im Februar hatte die Organisation festgehalten, Gonzalez werde beschuldigt, ein Agent des russischen Militärgeheimdiensts GRU zu sein. Eine Anklage lag aber auch da, zwei Jahre nach der Festnahme, nicht vor.
Das baskisch-spanische Blog Sare Antifaxista hat mehrmals über die Aktivitäten der Solidaritätsbewegung für Gonzalez berichtet. Auch dessen Lebensgefährtin Oihana Goiriena, die ihn im Gegensatz zu ihren Kindern ein paar Mal im Gefängnis besuchen konnte, kam ausführlich zu Wort. Noch im Februar sagte sie, Spaniens Außenminister José Manuel Albares habe die Anschuldigungen als schwerwiegend bezeichnet, aber »gelogen und die öffentliche Meinung getäuscht«.
Anfang August hielt Goiriena fest, dass die Anwälte erst im Juli – also nach zwei Jahren und vier Monaten Haft, davon lange Zeit in Isolation – vollständigen Einblick in die Ermittlungsakte bekommen hätten. So sei herausgekommen, dass die polnischen Behörden die Verhaftung wegen eines Hinweises des spanischen Geheimdienstes CNI vorgenommen hatten. Das erklärt wohl, warum Spaniens Regierung in diesem Fall »nie die Absicht hatte, einen Finger zu rühren«, so Goirienas enttäuschtes Resümee.
EU- und NATO-Länder schützen
Diese Feststellung machte sie kurz nach Gonzalez’ Freilassung. Er profitierte von einem Gefangenenaustausch, den die Regierungen Russlands und der USA vereinbart hatten. Hätte er allein die spanische Staatsbürgerschaft, »würde er weiterhin im Gefängnis verrotten«, kritisierte seine Lebensgefährtin die Regierung in Madrid.
RSF Spanien jubelte am 2. August in einer vom Weltverband übernommenen und übersetzten Meldung darüber, dass der US-amerikanische Journalist Evan Gershkovich vom Wall Street Journal und die russisch-US-amerikanische Journalistin Alsu Kurmasheva von Radio Free Europe/Radio Liberty durch den Gefangenenaustausch aus russischer Haft freikamen. Gonzalez wird in der Nachricht nicht erwähnt.
Für eine Antwort auf die Frage nach dem Grund dafür sowie für das Ignorieren des Falles Gonzalez in der Länderschandliste verweist die spanische Sektion gegenüber junge Welt an die Pariser RSF-Weltzentrale. Soviel also zur Eigenständigkeit einer Ländersektion.
Wenn ein Journalist im Auslandseinsatz festgenommen wird und zwei Jahre später nur ein substanzloser Spionagevorwurf im Raum steht, dann stellt sich die Frage, warum eine Organisation zum Schutz von Journalisten den Fall nicht in aller Form als Angriff auf die Pressefreiheit kategorisiert – zumal, wenn sie schon eine Unterstützungserklärung für den Inhaftierten veröffentlicht hat. Die Unklarheit bezüglich des Hintergrunds könnte dabei ja erwähnt werden.
Diese Unklarheit besteht noch immer. So hat die Tageszeitung Die Welt jüngst am 21. August einen merkwürdigen Artikel veröffentlicht, in dem Gonzalez als »Agent des russischen Militärgeheimdienstes GRU« bezeichnet wird. Auch die länderübergreifende Solidaritätskampagne wird in dem Text kritisiert, der nicht einmal den Anspruch erhebt, irgendeinen Beleg zu zitieren. Weder auf Regierungs- noch auf Geheimdienstkreise wird da verwiesen, um die Hauptthese des Artikels zu untermauern. Doch in Sachen RSF ist Gonzalez’ wahrer Charakter zweitrangig. Er saß ohne Anklage 29 Monate lang in Haft; der europäische Dachverband der Journalismusverbände EFJ forderte im Mai auf seiner Jahrestagung seine sofortige Freilassung und ein entschiedeneres Vorgehen der spanischen Regierung, nachdem zwei spanische Berufsverbände und die beiden größten Gewerkschaften des Landes das beantragt hatten; und RSF selbst skandalisierte wiederholt seine Inhaftierung. Da ist es unglaubwürdig, dass die Organisation sich hinter den Unwägbarkeiten hinsichtlich des wahren Charakters des Inhaftierten versteckte, um Polen nicht in seinen Schandlisten zu führen.
Dass RSF/ROG solche Unwägbarkeiten nicht neu sind, zeigt ein Hinweis in der deutschen Version der besagten Länderliste bezüglich der Türkei. Vor der Auflistung der Namen von sieben dort Inhaftierten steht der Hinweis: »In Dutzenden weiteren Fällen ist ein direkter Zusammenhang der Haft mit der journalistischen Tätigkeit wahrscheinlich, lässt sich aber derzeit nicht nachweisen, denn die türkische Justiz lässt die Betroffenen und ihre Anwälte oft für längere Zeit über die genauen Anschuldigungen im Unklaren.«
Das Verschweigen des genauso gelagerten Falles Gonzalez schwächt die weltweite Pressefreiheit, denn Regierungen können nun auf den Gedanken kommen, dass es sie vor schlechter Presse schützt, wenn sie beim Einsperren eines Journalisten jahrelang auf eine Anklage verzichten. Abgesehen vom bösen Buben Türkei, dessen Missetaten sich nicht unter den Teppich kehren lassen, enthielt die RSF-Schandliste somit in den vergangenen Jahren kein NATO- und kein EU-Mitglied, obwohl Großbritannien und Polen ebenfalls hätten erwähnt sein müssen.
Niemand beißt die Hand …
Die selektive Vorgehensweise von RSF erscheint in einem noch kritischeren Licht, wenn die Finanzierung der Organisation berücksichtigt wird. 2022 kamen 52 Prozent des Jahresbudgets des Weltverbands vom »staatlichen Sektor«, wie RSF selbst es in seinem Internetauftritt ausdrückt. In einem sogenannten Finanzbericht, der aus nur einer Tabelle besteht, wird ein bisschen präzisiert, was damit gemeint ist: »EU, Ministerien usw.«.
Die Organisation, die sich dem weltweiten Schutz einer Berufsgruppe verschreibt, zu deren vornehmsten und gefährlichsten Aufgaben es gehört, Regierungen bloßzustellen, wird also zum größten Teil von Regierungen finanziert. Die Frage, ob das langfristig gutgehen kann, erübrigt sich angesichts der Fälle Assange und Gonzalez.
Besonders deutlich wird das angesichts der Vorstellung des World Press Freedom Index, der jährlich von RSF erstellten Länderrangliste zur Bewertung der Pressefreiheit, 2023 in Washington. Stargast war dabei US-Außenminister Antony Blinken. Der Geschäftsführer des Washingtoner RSF-Büros, Clayton Weimers, ließ sich dazu mit der Aussage zitieren: »Die Vereinigten Staaten haben eine Verantwortung, weltweit die Werte der Pressefreiheit zu bewerben und zu verkörpern. Mit der Teilnahme an dieser Veranstaltung verschreibt sich Minister Blinken diesen Werten. Wir freuen uns darauf, weiter daran zusammenzuarbeiten, noch mehr konkretes zu tun, das JournalistInnen auf der ganzen Welt sicherer macht und das Recht der Allgemeinheit auf Information schützt.«
Das Auslieferungsverfahren gegen Julian Assange wurde vom US-Außenministerium geführt. Anstatt stellvertretend für Assange zum Beispiel dessen Ehefrau – die die internationale Kampagne für seine Freilassung führte – zur Vorstellung des Pressefreiheitsindex einzuladen, entschied sich RSF für Assanges Ankläger.
»Reporter ohne Grenzen« vertritt also nicht zuverlässig die Interessen des Journalismus. Die Fälle Assange und Gonzalez legen nahe, dass die RSF-Ländersektionen unselbständige Anhängsel eines Weltverbands sind, der sich angesichts seiner Finanzierung noch nicht mal Nichtregierungsorganisation nennen sollte. Jedenfalls führt er seine Schandlisten auf schändliche Weise.
Wie eine seriösere Interessenvertretung funktioniert, zeigt der erwähnte europäische journalistische Dachverband EFJ. Auch er führt eine Liste der Länder, die Journalistinnen und Journalisten in Haft halten. Zur Zeit ist sie noch auf dem Stand von Anfang des Jahres. Die Übersicht ist kürzer als bei RSF, da sie sich auf Europa beschränkt, aber in ihr sind viele Personen aufgelistet. Bei den Ländern Aserbaidschan, Belarus, Russland, Türkei und »besetzte Ukraine« werden jeweils zwischen 13 und 32 Namen von Inhaftierten aufgeführt. Und dann sind da noch zwei Länder, bei denen jeweils nur ein Name steht: Großbritannien und Polen.
Ralf Hutter ist freier Journalist.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
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