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Aus: Ausgabe vom 26.08.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Autonome Region Kurdistan

»Die Souveränität Iraks wurde verkauft«

Autonome Region Kurdistan: Türkei zielt auf Besatzung und wird von Erbil und Bagdad dabei unterstützt. Guerilla hat sich professionalisiert und leistet Widerstand. Ein Gespräch mit Zagros Hîwa
Von Tim Krüger
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Schon länger im Visier: Protest in Mossul gegen die türkischen Angriffe auf die Provinz Dohuk am 21. Juli 2022

Im Juli hat die türkische Armee mit einer neuen Offensive begonnen und mit starken Kräften die Grenze zur Autonomen Region Kurdistan im Nordirak überschritten. Was ist das Ziel?

Die Angriffe sind Teil eines genozidalen Konzeptes, das sich gegen das kurdische Volk richtet. Am 3. Juli ist die Operation, die bereits am 16. April begonnen hat, in eine neue Phase eingetreten. Die Vertreter der türkischen Regierung haben niemals ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie Mossul und Kirkuk, nach den Grenzen des Misak-ı Millî (Nationalpakt von 1920, jW), als Teil ihres Territoriums betrachten. Mit der laufenden Operation wollen sie ihrem neo­osmanischen Traum einen Schritt näher kommen. Die PKK dient ihnen dabei lediglich als Ausrede. Es gibt keine PKK in Baschika, und trotzdem hat die türkische Armee dort, gerade einmal zehn Kilometer von Mossul entfernt, ein großes Militärlager aufgeschlagen. Mit den jüngsten Angriffen versuchen sie eine direkte Verbindungslinie zwischen ihren Posten in der Provinz Dohuk und Baschika zu ziehen. Sollte es ihnen gelingen, dieses Operationsziel zu erreichen, dann wäre Südkurdistan unter vollständiger Besatzung. Was mit Afrin und Serêkaniyê (von der Türkei besetzte Städte im Norden Syriens, jW) geschehen ist, würde dann auch Erbil und Süleymania widerfahren.

Wie steht es um die Situation in den Kampfgebieten? Kann die Guerilla den Vormarsch der Armee aufhalten?

Die Guerilla befindet sich seit 2015 in einer Phase der Neustrukturierung, und man versucht einen professionellen Kampfverband nach dem »Paradigma der demokratischen Moderne« zu schaffen. So wurde eine neue Doktrin des revolutionären Kriegs der unterdrückten Völker entwickelt. Entsprechend dieser Doktrin leistet die Guerilla mit Tunnelkrieg, mobilen Truppenverbänden und Luftverteidigung Widerstand gegen die feindlichen Angriffe. Aktuell finden in Zap und Metîna heftige Gefechte statt, und die türkische Besatzungsarmee muss täglich schwere Schläge einstecken. Es ist ihnen seit dem 16. April nicht gelungen, die Stellungen der Guerilla zu erobern. Daher sind sie nun – mit Hilfe der Demokratischen Partei Kurdistans KDP (führt die Regionalregierung in Erbil an, jW) und des Iraks – mit ihren Panzerfahrzeugen in die Städte vorgedrungen und versuchen die Guerilla zu umzingeln.

Erst kürzlich haben Ankara und Bagdad mehrere Sicherheitsabkommen unterzeichnet. Wie weit reicht die Zusammenarbeit?

Es war die KDP, die den Irak unter Druck gesetzt hat, das Abkommen zu unterzeichnen. Die KDP stellt der türkischen Besatzungsarmee alle Arten logistischer und nachrichtendienstlicher Unterstützung zur Verfügung und versucht, mit dem Abkommen ihren eigenen Verrat zu legitimieren. Ihre Einheiten agieren unter irakischer Flagge als sogenannte Grenzschutzeinheiten und sind mit der türkischen Armee an der Umzingelung der Guerillagebiete beteiligt. Sie stehen 40 Kilometer innerhalb des irakischen Territoriums, und vor ihren Augen bewegen sich Hunderte türkischer Soldaten auf irakischem Boden, und sie tun rein gar nichts. Das ist keine Grenzschutzeinheit, sondern eine Schutzeinheit für die Besatzer. Mit diesem Abkommen wurde die Souveränität des Iraks verkauft.

Anfang des Monats hat die irakische Regierung die jesidische Partei PADÊ, die Organisation Tevgera Azadî und die Demokratische Kampffront aufgrund vermeintlicher Verbindungen zur PKK verboten. Was bedeutet dieser Schritt?

Diese Entscheidung widerspricht dem irakischen Recht, ist ganz und gar politisch motiviert und wurde unter dem Druck der Türkei und der KDP gefällt. Dabei haben diese beiden dem Irak am meisten geschadet. So hat die KDP mit Saddam Hussein Hunderte schiitische Oppositionelle in Erbil ermordet. Sie haben Şengal an den IS übergeben, wo Tausende Jesiden massakriert wurden, und sie haben ein Unabhängigkeitsreferendum durchgeführt. All das sind Verbrechen nach dem irakischen Gesetz. Die Türkei hat Hunderte irakische Bürger getötet, den Wasserlauf von Euphrat und Tigris unterbrochen und war der Hauptunterstützer des IS. Die Parteien, die verboten wurden, haben keine organisatorische Verbindung zur PKK – es handelt sich statt dessen um irakische Bürger, die der Philosophie Abdullah Öcalans folgen. Es ist zynisch, dass diejenigen, die den Irak gegen den IS verteidigt haben und dafür sogar vom damaligen Premierminister Haidar Al-Abadi Dank empfingen, nun verboten werden. Diejenigen aber, die dem IS geholfen haben, die Bürger des Iraks zu enthaupten, sind nun offensichtlich zu Partnern der Regierung von Mohammed Shia Al-Sudani geworden.

Zagros Hîwa ist Sprecher der Gemeinschaft der ­Gesellschaften Kurdistans, KCK

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