»Das zeigt, wie willkürlich argumentiert wird«
Interview: Gitta DüperthalDer Bundestag erkannte die 2014 begangenen Verbrechen des »Islamischen Staats«, IS, an der jesidischen Bevölkerung Anfang 2023 als Völkermord an, lässt es aber an notwendiger Unterstützung fehlen. So hinderte die Bundespolizei am 30. Juli Jesidinnen und Jesiden an der Ausreise nach Şengal im Nordirak. Am 3. August wollten diese an einer Gedenkveranstaltung zum zehnten Jahrestag des Genozids und Femizids teilnehmen. Wie kam es dazu?
Die Bundespolizei warf einzelnen Aktivisten die Nähe zur Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, vor. Es hieß, sie könnten »die Interessen der Bundesrepublik im Ausland« schädigen, würden sie in den Irak einreisen. Eine weitere Begründung lautete: Das Auswärtige Amt spreche seit Jahren eine Reisewarnung für den Irak und die Nordgebiete der Autonomen Region Kurdistan aus. Gerade letzteres zeigt, wie willkürlich hier argumentiert wird: Einerseits dürfen wir nicht einreisen, weil es dort nicht sicher sei, andererseits aber werden Jesidinnen und Jesiden aktuell wieder vermehrt dorthin abgeschoben. Hatte es zunächst noch geheißen, nur Straftäter würden deportiert, trifft es neuerlich ganze Familien, die nach 2014 in die BRD geflüchtet waren.
Wie ist die Situation in Şengal ?
80 Prozent der öffentlichen Infrastruktur und 70 Prozent der Häuser in Sindschar, der größten Stadt des Bezirks, wurden während des IS-Terrors zerstört. Nennenswerter Wiederaufbau hat nicht stattgefunden, internationale Organisationen übernahmen kaum Verantwortung. Es fehlt an Strom und an Wasser – wegen der durch die türkischen Besatzer angerichteten Umweltverschmutzung sogar an Trinkwasser. Islamische Gelehrte haben eine »Fatwa« ausgesprochen: Islamisten machen sich auf den Weg, diese umzusetzen und erneut Jesidinnen und Jesiden zu töten.
Wie erklären Sie sich den Widerspruch, die Ausreise nach Şengal zu verweigern, andererseits aber dorthin abzuschieben?
Die Bundesregierung versucht, Forderungen der AfD nachzukommen, indem sie Menschen auch in unsichere Gebiete abschiebt. Vor allem ist das absurd, wenn es Jesidinnen und Jesiden trifft. Ihnen hatten die Regierung von SPD, Grünen und FDP zusammen mit der CDU/CSU-Fraktion Anfang 2023 im Zuge der Anerkennung des Völkermords besonderen Schutz zugesagt. Das Versprechen halten sie nicht ein. Zum anderen hinderte sie eine ganze Gruppe, dort an Gedenkveranstaltungen zum 3. August, dem zehnten Jahrestag des Genozids, teilzunehmen. Das ist unwürdig.
Was entgegnen Sie dem Vorwurf der PKK-Nähe?
Diese Reise hat mit der PKK gar nichts zu tun. Die Gruppe war offiziell von der Selbstverwaltung von Şengal zur Gedenkveranstaltung eingeladen. Andererseits: Hätte die PKK uns an diesem Tag im August vor zehn Jahren in Şengal nicht verteidigt, hätte der IS noch mehr Menschen vergewaltigen, verschleppen und ermorden können. Auch hat die PKK stets ihre Kämpferinnen und Kämpfer zurückgezogen, wenn deutlich wurde, dass angegriffene Menschen sich selber verteidigen können.
Im Zuge der Anerkennung des Völkermords an Jesidinnen und Jesiden im Bundestag war all das kein Thema?
Nach Bekanntwerden des brutalen Überfalls der Terrormiliz IS 2014 begannen einzelne Parlamentarier im Bundestag von SPD und Grünen, sogar auch von CDU/CSU, mit neuem Blickwinkel auf die PKK zu schauen. Nachweislich hatte diese als einzige Kraft Jesidinnen und Jesiden vor dem Völkermord gerettet. Später, mit dem Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei, änderte die Bundesregierung ihre Haltung. Gegenüber der PKK und Kurdistan ist es eine ideologische und kolonialistische, seit dem Ersten Weltkrieg bis heute.
Der deutsche und der türkische Staat gingen im±mer Hand in Hand. Als die Türkei Gebiete im Mittleren Osten kolonisierte, lieferte die BRD weiterhin Waffen. Die NATO unterstützt die türkischen Annexionskriege in Süd- und Nordkurdistan militärisch.
Mazlum Ezda ist Jeside und engagiert bei der Initiative »Defend Kurdistan«
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