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Aus: Ausgabe vom 26.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Knacks vom Vater

»Wegen der Kälte«: Res Siguschs Künstlerroman »Wesentliche Bedürfnisse«
Von Ken Merten
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Zwischen Form und Inhalt liegt die Spannung: Res Sigusch

Was ist der Mensch doch ohne die Maschine? Die künstlichen Kalfaktoren können es einem so viel leichter machen und tun es viel zu selten. Eines dieser programmierten Helferlein hat ausgerechnet, dass in Res Siguschs »Wesentliche Bedürfnisse« 26mal die Präposition »wegen« auftaucht – die eine Verwendung der Zirkumposition »von wegen« nicht dazugerechnet, auch nicht das mehrmals auftauchende Adverb »deswegen«. Eigentlich Schmarrn, nach einem Wort fahnden zu lassen, das sich so häufig in der deutschen Alltagssprache findet.

Siguschs Debüt ist jedoch, besonders in den ersten zwei Dritteln, stark geprägt davon, dass mit Kausalitäten operiert und argumentiert wird: »wegen der Kälte« wird zu Beginn gefröstelt, wenn Hauptfigur Benjamin die Ausstellung seines Kumpels Stephan – die Ungleichen nennen sich gegenseitig in lieber Freundesenge »Biene« und »Steffi« – eröffnet. Und »wegen der Sache damals«, die im Verlauf des Romans noch näher erläutert wird, hat Katharina, die mit dem sich selbst überschätzenden und karriereorientierten Vieltrinker Stephan (»Alle sind wegen des Sekts gekommen oder wegen der Kontakte«) fast erwachsene Zwillinge hat, ihre Buhlversuche gegenüber der zurückhaltenden 50jährigen hypersympathischen Charmekanone Benjamin eingestellt.

Auch eingestellt: Benjamins Versuche zu malen. Statt dessen doziert er möglichst hierarchiefrei Kunsttheorie, lebt seit 30 Jahren im selben Berliner Altbau mit Heizofen und gönnt sich als einzigen Luxus und schon fast aus Milieuzwang heraus Hipsterkaffee mit Erdbeereisnote. So lebt er als akademischer Bob Ross ohne eigene Malpraxis weitgehend unbeschwert, hat mit der in offener Ehe lebenden Sibylla eine angenehm lockere Dateroutine und muss sich höchstens fortwährend Sorgen darüber machen, ob er mit seiner Hilfsbereitschaft und Menschenfreundlichkeit nicht doch irgendwo die berufsmoralische Grenze zwischen Studierenden einerseits und ihm als Lehrbeauftragten andererseits überschreitet.

Aber klar, seinen Knacks hat auch Benjamin weg, sonst würde vielleicht er statt Stephan ausstellen. Dessen Leitsatz »Malen soll man nur, was man berührt hat« ist eine Aneignung, und die Spur führt dann auch zu Benjamins Knacks, seinem Vater. Der war Ostseefischer und offensichtlich auch Hobbyesoteriker, übergab er seinem Sohn doch die Weisheit, »man solle besser nur töten, was man angefasst habe. Das mache es schwerer.«

Wegen des Vaters also. Was wäre Literatur ohne Väter und das, was sie verzapfen? Sie sähe völlig anders aus. Apropos generationelle Übergänge: Konstantin gerät in Benjamins Leben, und die beiden teilen nicht nur das Suffix ihrer Vornamen, sondern auch Profession und Wesenszüge; Kunststudent Konstantin stapelt tief, wenn es um sich und sein Werk geht. Benjamin will ihm wahlväterlich helfen, und das, ohne ihm zu helfen. Schließlich ist der Übergang zum »guten alten Männerbund« fließend, und genau gegen Nepotismus, Leistungsdruck und Konkurrenzdenken stellt sich Benjamin ja, wenn er Dilettantismus und Faulheit als integrale Bestandteile der Kunst lehrt und zur Podiumsdiskussion mit einem politischen Prediger der deutschen Leitkultur Bartlebys Anti-Catchphrase »I would prefer not to« auf dem T-Shirt trägt. Wegen der Leitkultur? Lieber nicht.

Dass gegen Ende weniger »wegen« etwas geschieht, zeigt die Emanzipationsprozesse im Roman, mag aber vor allem am Zurückspulen der Hergänge liegen, ins Wegen also hinein: Es geht ins Jahr 1989, als gerade »der schöne Westwall« riss, wie Peter Hacks in einem Brief im Dezember 1961 an seinen Freund Hansgeorg Michaelis die »Mauer« (22mal im Text, viermal davon dem »-fall« vorangestellt, danke, Suchfunktion!) nannte. Die Grenzöffnung am sogenannten Schicksalstag der Deutschen – obendrauf Benjamins Geburtstag, sein 19. – ermöglicht ihm, in Westberlin Uli kennenzulernen. Ein Grund, eigentlich: der Grund, das grad erst angefangene, mit der drögen Vermittlung von Handwerk verprellende Kunststudium sein zu lassen.

Spannungsgeladen ist »Wesentliche Bedürfnisse« von Res Sigusch nicht, braucht es nicht, und soll es sicher auch nicht sein. Wer etwa hinter dem von Benjamin in seiner Vorlesung so ausführlich behandelten, unbekannten und nur kurze Zeit malenden Maler Michael Mai steckt, muss nicht erst ausgesprochen werden. Spannung aber liegt durchaus zwischen Form und Inhalt; darin, dass hier gleich mehrere Figuren, die sich gegen Warenform und in großen Worten für den Traum von der Autonomie der Kunst aussprechen, in einem Roman auftreten, der sich so eingängig programmiert liest, als wäre das Handwerk zur Warenherstellung dann eben doch recht entscheidend. Die astrein unrhetorische und von keiner Maschine der Welt zu beantwortende Frage: Weswegen?

Res Sigusch: Wesentliche Bedürfnisse, Berlin-Verlag, Berlin 2024, 272 Seiten, 24 Euro

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