Cineastische Standardsituationen
Von Frank SchäferGregory Crewdsons Bilder sehen aus wie Film-Stills. Er selbst nennt sie »single-frame movies«. Stimmt. Die im Bild eingefrorene Handlung hat längst vorher begonnen, und sie geht danach auch noch weiter. Die exponierte Spannung zwischen der verborgenen Story und dem sich tatsächlich im Bild manifestierenden Augenblick macht unter anderem den Reiz dieser Bilder aus. Sie inszenieren den Kairos, den besonderen Moment und verleugnen ihn gleichermaßen, sie sind gewissermaßen Stupor in Aktion, dynamisierte Bewegungslosigkeit.
Das Fremde, Geheimnisvolle, Unheimliche bricht sich Bahn in der totalen Profanität des kleinstädtischen Neuengland. Tatsächlich sind alle Schauplätze in Massachusetts situiert, aber ein realistischer Alltag ist es nicht, den Crewdson hier einfängt, sondern immer schon ein medial vermittelter, ein Kinoalltag. Er macht Bilder von Bildern. Metakunst.
Seine Motive sind dann auch nicht realistisch, sondern artifiziell. Jedes Detail wirkt inszeniert wie bei einem Filmset. Tatsächlich beschäftigt Crewdson, seitdem er es sich leisten kann, den Kameramann Richard Sands, der mit Steven Spielberg und Francis Ford Coppola gearbeitet hat. In wochenlangen Vorarbeiten erschafft der Künstler die gefilmten Szenarios, die Sands dann fotografiert. Das endgültige Foto selbst ist ebenfalls ein Konstrukt, hergestellt aus einer Synopse von bis zu 40 verschiedenen Aufnahmen, allesamt mit unterschiedlichen Tiefenschärfen, die übereinandergelegt dieses an keiner Stelle unscharfe und deshalb so merkwürdig hyperrealistisch anmutende Gesamtbild ergeben.
Bisweilen entsteht der Eindruck, man hätte diese Sujets schon mal gesehen – etwa in einem Streifen von Steven Spielberg oder David Lynch, dessen Thrillerdekonstruktion »Blue Velvet« den Künstler, wie man an seinem Frühwerk leicht erkennen kann, vielleicht am stärksten beeinflusst hat. Oft erinnern diese Arbeiten auch an cineastische Standardsituationen, am häufigsten aus dem Horror- oder Science-Fiction-Genre. Da ist der Junge, der sich löst aus seiner Freundesgruppe, das schützende Kollektiv verlässt und dann unter einer Brücke etwas Faszinierendes oder auch Gefährliches entdeckt … Der Mann, der vor seinem Haus in einem Scheinwerferkegel steht und suchend in den Himmel schaut … Das kleine Mädchen, das im Nachtzeug schlafwandelnd aus dem Haus tritt, der leere Schulbus wartet schon auf sie … Häufig halten Autos mit geöffneten Türen auf unbefahrenen Straßen, und dann steht jemand vor seinem Wagen und starrt in die geöffneten Handflächen, als klebe Blut daran. Aber Crewdsons Bilder gehen eben auch nicht völlig auf in ihren Referenzen, sie erschaffen ihre ganz eigene suggestive Aura.
Seine bevorzugte Tageszeiten sind Dämmerung und Morgengrauen, da steckt das Grauen schon im Wort, das sich hier subkutan mitteilt. Am deutlichsten zeigt sich das in seiner bekanntesten Serie »Twilight«, die ihn Ende der Neunziger schnell zu einem Star in der US-Kunstszene macht. Mittlerweile zahlen Käufer sechsstellige Summen für einen Abzug. Insofern ist es schon ein ziemlicher Coup, dass die Albertina in Wien den Künstler von einer Schenkung überzeugen konnte, die dann auch die Grundlage war für diese mit über 80 Werken wirklich mal gründliche und vorbildlich aufbereitete Retrospektive.
Dass Crewdson sich in Edward Hoppers Werk gut auskennt und Raymond Carver zu seinen Lieblingsautoren zählt, liest man in den Gesichtern seiner Protagonisten. Die Menschen, die er aus seinem Freundes- und Familienkreis oder von der Straße weg rekrutiert, er castet sie bewusst nicht bei Modelagenturen, blicken stets gedankenversunken, wie in Trance und dabei merkwürdig melancholisch ins Leere. Sogar Mutter und Sohn, die nebeneinander am Esstisch sitzen, schauen ausdruckslos aneinander vorbei. Spaß hat hier keiner, soviel steht fest. Und er musste gar nicht unbedingt so deutlich werden wie in seiner letzten Serie »Eveningside«, die ein marodes, deindustrialisiertes und komplett desillusioniertes Kleinstadtszenario entwirft, Trump-Land gewissermaßen – sein gesamtes Werk lässt sich als großangelegte Entlarvung des amerikanischen Traums lesen. Crewdsons Bilder sind zwar vielsinnig, voller Rätsel und unbekannter Schrecken, aber was sie bedeuten, zeigen sie einem dann doch ganz unmissverständlich.
Gregory Crewdson: »Retrospektive«, Albertina, Wien, bis zum 8. September 2024
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