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Aus: Ausgabe vom 27.08.2024, Seite 1 / Titel
Angriff in Solingen

Unkontrolliert nach rechts

Nach Angriff in Solingen: Politiker fordern fast unisono restriktivere Migrationspolitik. Verdächtiger sollte 2023 ausgewiesen werden
Von Kristian Stemmler
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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und mehrere NRW-Landespolitiker besuchten am Montag den Tatort

Der tödliche Messerangriff in Solingen wird zum Hebel für eine weitere Rechtsverschiebung der Migrationsdebatte. Am Montag haben zahlreiche Politiker mehr Abschiebungen, erweitere Befugnisse für Polizeibehörden und ein schärferes Waffenrecht gefordert. Am Freitag abend hatte ein Syrer in der Solinger Innenstadt drei Menschen mit einem Messer tödlich verletzt; mehrere weitere Menschen wurden schwer verletzt.

Vor dem Hintergrund der bevorstehenden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, bei denen die AfD stark abschneiden dürfte, gewinnt die Debatte an zusätzlicher Schärfe. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach bei seinem Besuch am Tatort am Montag von »Terrorismus gegen uns alle«. Die Bundesregierung werde bald einen Vorschlag zur Verschärfung des Waffenrechts vorlegen. Zudem müsse geprüft werden, ob »notfalls mit rechtlichen Regelungen« die Zahl der Abschiebungen weiter erhöht werden könne. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) forderte bei seinem Besuch des Tatorts Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan. Der Tatverdächtige war laut Medienberichten 2022 nach Deutschland gekommen und hätte im Frühjahr 2023 nach Bulgarien abgeschoben werden sollen. Er sei am fraglichen Tag aber nicht bei der Ausländerbehörde erschienen, wie NRW-Innenminister Herbert Reul am Sonntag abend erklärte.

Die islamistische Gruppe »Islamischer Staat« (IS) hatte den Anschlag im nachhinein für sich reklamiert. Inzwischen hat der Generalbundesanwalt unter anderem wegen des Verdachts der Mitgliedschaft beim IS die Ermittlungen übernommen. Der Tatverdächtige befindet sich in Untersuchungshaft.

CDU-Chef Friedrich Merz hatte am Sonntag als Konsequenz aus dem Angriff einen Aufnahmestopp für Menschen aus Afghanistan und Syrien verlangt. Der SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert kritisierte das Vorhaben im ARD-»Morgenmagazin« am Montag. Merz habe Vorschläge gemacht, denen das Recht auf Asyl im Grundgesetz entgegenstehe. Ein Regierungssprecher kommentierte den Vorschlag am Montag mit den Worten, derlei »würde gegen das Grundgesetz und wahrscheinlich auch gegen die EU-Menschenrechtsverordnungen verstoßen«. Die Organisation Pro Asyl erklärte in einer Mitteilung dazu, Geflüchtete suchten »oft genau vor der islamistischen Gewalt Schutz«, der man in Solingen begegnet sei. Linke-Chef Martin Schirdewan forderte in Berlin, dem Dschihadismus »den politischen und sozialen Nährboden zu entziehen«, und wandte sich gegen einen »rassistischen Generalverdacht gegen Muslime«.

Zustimmung erntete der CDU-Chef allerdings von der BSW-Vorsitzenden Sahra Wagenknecht. Ein Aufnahmestopp für Syrer und Afghanen sei »ein erster Schritt«, sagte sie AFP. Beim Kurznachrichtendienst X schrieb Wagenknecht: »Wer unkontrollierte Migration zulässt, bekommt unkontrollierbare Gewalt.«

Mario Voigt, CDU-Spitzenkandidat in Thüringen, kündigte gegenüber den Ippen-Medien an, dass es in Thüringen unter CDU-Führung künftig »Abschiebehaftplätze geben« werde. Reul sprach sich im Deutschlandfunk für stärkere Grenzkontrollen sowie Zurückweisungen von Flüchtlingen aus. Omid Nouripour, Kochef von Bündnis 90/Die Grünen, forderte mehr Personal für die Polizei, den deutschen Inlandsgeheimdienst und das BKA. Am Donnerstag soll es im Landtag von NRW eine gemeinsame Sondersitzung des Innen- und Integrationsausschusses geben. Die Unionsfraktion will noch in dieser Woche in einer Sondersitzung des Bundestagsinnenausschusses über die Ereignisse diskutieren.

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  • Leserbrief von Roland Winkler aus Aue (27. August 2024 um 11:39 Uhr)
    Gedenken, Emotionen, Wut, Empörung, wer wollte es nicht verstehen. Zum Gedenken gehört aber eben auch denken. Es ist nicht schwer, Emotionen, Wut zu steuern und in Hass zu wandeln. Der Kanzler nennt den »Messerangriff« einen Terroranschlag. Meist haben wir bei Mordanschlägen von Einzeltätern gehört. Der Mordanschlag von Solingen war wie schon viele die Tat von Einzeltätern, auch wenn Bekenntnisse des IS oder anderer Terrororganisationen nachgeschoben werden. Warum die feinen Unterschiede in der Lesart? Volksseele zum Kochen bringen, wer erkennt das nicht? Nicht politisch nutzen, fordern Befragte auf der Straße. Was geschieht aber und was lassen PolitikerInnen deutlich genug hören und machen die Mordtat bewusst oder unbewusst zum Wahlkampf. »Es reicht!« sagt CDU-Merz, Abschieben wird mehrheitlich gefordert, AfD muss gar nichts fordern. Volksseele und regierende Parteien übertreffen sich in Erklärungen, Forderungen und Absichten nicht gegen einige wenige Täter, sondern gegen Migranten, Asylsuchende, Andersgläubige, Ausländer, was niemand falsch deuten kann. Messer, Islam, Flüchtlinge usw., das Täterbild wird dem Volke gezeigt in aller Verallgemeinerung. Auch ohne neuerliche Mordtat ist das Feindbild Ausländer allgegenwärtig in Gesprächen an jeder Straßenecke. Waffenverbot soll folgen. Nur Messer oder auch andere Waffen, die es reichlich in Händen von Kriminellen und nicht nur Ausländern gibt? Kein Thema, wie es kein Thema ist, der Frage endlich nachzugehen, wie und wo Terror geboren wird. Der Krieg gegen den Terror wurde von Bush ausgerufen und seither mit Krieg also Terror, geführt. Krieg schafft immer neuen Terror und wir sind ganz dabei immer neuen Terror zu bedienen. Darüber darf nicht geredet werden. Stimmung nicht Sachlichkeit ist gefragt. Zahllose Flüchtlinge, Asylsuchende, Ausländer sind in diesen Stunden das Ziel von Hass und Wut. Berichterstattung lässt es nicht zu, in Erinnerung zu rufen, dass es in Deutschland nicht nur Nazis und Faschisten gibt, wie es nicht nur Kriminelle und Gewalttäter unter Ausländern gibt. Einen Gedanken daran zu verschwenden, dass es viele Tausende Flüchtlinge im Lande gibt, die nicht weniger in Angst sind, gewaltsam abgeschoben zu werden, u. a. ganz konkret in Länder, die wir mal befreien wollten, die wir mit Krieg überzogen haben und Gewaltherrscher an die Macht gebracht haben. Gedenken und Denken, zwei Dinge und Seiten, die selbst höchsten PolitikerInnen fremd sind. Was ist dann vom Volke der Straße überwiegend zu erwarten? Asyl- und Menschenrecht ist heute etwas ganz Fremdes geworden. Politik erinnert sich an nichts mehr, nicht an Grenzen, Mauern und Gewalt gegen Flüchtlinge. Mit Gewalt und Abschieben, Grenzen dicht usw. wird das große Problem Migration bestimmt nicht zu lösen sein. Wer weiter nur Krieg in die Welt schafft, Armut, Flucht nur fördert, der wird das Problem nicht loswerden. Mit Solingen beginnen und die Menschen zueinander zu bringen, die auf allen Seiten Gewalt und Mord, Hass und Hetze ablehnen, für die alle Menschen sind, Menschen in Not, Armut, im Krieg, nach Schutz suchend wie alle, das vermag diese Politik nicht, sie will es gar nicht.
  • Leserbrief von Frank Lukaszewski aus Oberhausen (26. August 2024 um 22:04 Uhr)
    Es ist offensichtlich im Spektrum der leider einzigen, marxistisch orientierten Tageszeitung nicht angezeigt, eine fundierte Religionskritik auch hinsichtlich des Islams einzufordern. Wünscht man dies, wird die Rechtskeule gezückt. Ja,, Opus Dei, christlich argumentierende Schwachkopfangriffe auf Abtreibungskliniken nicht alleine in den USA dürfen nicht vergessen werden. Auf keinen Fall! Sie zeigen sich z.T auch in der jW prominent thematisiert. Gut so! Der Islamfaschismus wird allerdings irgendwie versteckt behandelt. Das ist nicht gut so! Die diversen Ableger genannter Religion stehen mehrheitlich hinter der Aufklärung?
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Eike Andreas S. aus Buchholz in der Nordheide (26. August 2024 um 19:59 Uhr)
    Ein »Abschiebung« nach Bulgarien ist etwas anderes als eine Abschiebung ins Heimatland. Dies wird in diesem Fall gezielt vermischt. Der Solinger mutmaßliche Täter hätte aufgrund des Schengen-Abkommens nach Bulgarien überstellt werden müsen, da er dort erwiesenermaßen den Schengen-Raum zuerst betreten hat. Bulgarien hat dies bestätigt und hätte die Person aufgenommen. Solche Überstellungen wurden in der Vergangenheit z. B. in Bezug auf die völlig inhumanen Verhältnisse in Ungarn immer wieder durch Kirchenasyl verhindert und Deutschland als zuständig für den Asylantrag gemacht. Der Mann in Solingen war an dem Tag der versuchten Überstellung nach Bulgarien nicht in seiner Unterkunft angetroffen worden. In der jetzigen Diskussion wird öffentlich so getan, als ob es sich schon damals um einen erwiesenen Straftäter gehandelt habe. Eben dies war nicht der Fall. Im Gegenteil: Der Mann hatte »subsidiären Schutz«, wie ihn Zehntausende von Asylbewerbern haben. Er war auch keinesfalls »untergetaucht«. Er hatte somit Anrecht auf Bürgergeld und durfte arbeiten. Er wohnte offiziell in einer vom Jobcenter bezahlten Flüchtlingsunterkunft. Dass er dort nicht ständig anzutreffen war, ist angesichts der diskriminierenden »Wohnsitzauflage« auch gängige Praxis. Er war also keiner von denjenigen, die in einer jahrelangen Warterei auf eine endgültige Entscheidung über ihren Status sich mit der »Bezahlkarte« rumärgern müssen. Es geht also in der jetzigen Kampagne gar nicht um einzelne kriminelle Täter, sondern insgesamt um anerkannte Asylbewerber, die – aus welchen Gründen auch immer im Einzelfall – sich nicht »nahtlos« ins deutsche Erwerbsleben einfügen oder einfügen können. Und dieser Prozentsatz an völlig frustrierten Geflüchteten scheint mir tatsächlich zu steigen.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (27. August 2024 um 11:04 Uhr)
      Mit der völlig verkorksten Migrationsdebatte hält man uns ständig ein Stöckchen hin, über das wir gefahrlos hüpfen dürfen. Wir sollen immer wieder intensiv darüber nachbrüten, wie die verworrene Politik der Monopolbourgeoisie besser gemacht werden könnte, damit wir es uns mit ihr gemeinsam in »unserem« Boot so richtig bequem machen können. Wenn das mal nicht schiefgeht mit den Gemeinsamkeiten zwischen denen, die arbeiten und denen, die davon in Saus und Braus leben!

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