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Aus: Ausgabe vom 27.08.2024, Seite 2 / Inland
Geschichte der Arbeiterbewegung

»Hier wurden Grundtendenzen erprobt«

Über Strategien gegen die Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert. Ein Gespräch mit Stefan Bollinger
Interview: Milan Nowak
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Holzstich des Ausbruchs der Revolution von 1848 in Berlin

Sie sprachen auf der »Marxistischen Studienwoche« in Frankfurt vor zwei Wochen zu Rechtsentwicklungen in Deutschland von 1848 bis 1918. Zu welchen Umbrüchen kam es in dieser Zeit?

1848/49 blieb die bürgerliche Revolution unvollendet. Die Bourgeoisie bekam Zugeständnisse vom Adel und sorgte sich mehr um den Feind, der an ihr Eigentum wollte: das Proletariat. In den 1890ern kam der Übergang zum Imperialismus. Die deutschen Monopole setzten nach späten kolonialen »Erwerbungen« auf aggressivere Außenpolitik. Ohne »Ruhe« im Innern ging das nicht.

Mit welchen Mitteln bekämpften Adel und Bourgeoisie die Arbeiterbewegung?

In der 1848er Revolution konnten sie aufmüpfige Arbeiter noch niederschießen, einsperren oder ins Exil treiben. Mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung mussten sie differenzierter vorgehen. Bismarcks Sozialistengesetze von 1878 sollten die SPD in die Illegalität drängen. Sie widerstand mit Geschick und Beharrlichkeit, nutzte Gesetzeslücken und wurde von Wahl zu Wahl stärker.

Otto von Bismarck sah früh, dass Repression nicht ausreichte. Er setzte auf Sozialpolitik, nicht nur auf Sozialdemagogie, ab 1883 mit Unfall- und Krankenversicherung, um der SPD den Wind aus den Segeln zu nehmen. Diesen Ansatz baute Kaiser Wilhelm II. noch aus, um als »Arbeiterkaiser« beliebt zu werden. Doch die Gewaltoption durch den Staat bestand fort. 1889 wurde auf streikende Bergarbeiter im Ruhrgebiet geschossen, 14 starben.

Zeigte Bismarcks Ansatz Wirkung?

In der Tat: Wahlerfolge und soziale Zugeständnisse weckten bei manchen Hoffnung auf friedliche Reformen. Die Vorkriegs-SPD stritt über Opportunismus und Revisionismus. Als sie 1914 dem Krieg hätte abschwören müssen, sprach Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg mit den SPD-Führern. Statt eine proletarische Antikriegsbewegung niederzuschlagen, einigte er sich mit Friedrich Ebert und Co. Man führe den Krieg nur wegen der Gefahr aus dem Osten, der zaristischen Diktatur. Wenn die SPD ihre Pflicht erfülle, werde es soziale Zugeständnisse, etwas Mitbestimmung und nach dem militärischen Sieg politische Reformen geben, etwa die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts.

Welche rechten Bewegungen entstanden im Kaiserreich?

Teilen von Adel und Großbourgeoisie war die Spaltungspolitik zu lasch. Sie setzten auf Feindbilder, die das Reich einigen und auch Arbeiter einbinden sollten: Franzosen, Juden, Roma und Sinti und Slawen seien der deutschen Rasse unterlegen, so die Argumentation. Massenvereine wurden gegründet: Kolonialverein, Marineverein, der Alldeutsche Verband. Es wurde mit einer antisemitischen und antisozialistischen Christlich-sozialen Partei experimentiert. Die erreichte vor allem bürgerliche und kleinbürgerliche Kreise. Trotzdem fanden sich diese Ideologien, Akteure und Strukturen im 20. Jahrhundert wieder, im Rechtskonservatismus und deutschen Faschismus.

Hatten diese Kräfte Wirkung auf Arbeiter?

Die Massenpresse wirkte, die Schule manipulierte und die Männer, die »des Kaisers Rock« anziehen mussten, blieben von dieser Gehirnwäsche nicht verschont. Linke Immunisierung hatte ein Verfallsdatum. Der Erste Weltkrieg trieb die Rechtsentwicklungen auf die Spitze. Die Menschen erfuhren Gewalt und mussten sie praktizieren. Ihnen wurde eingeredet, den »deutschen Sozialismus«, zunächst als »Schützengrabensozialismus«, zu erleben. Nach dem Sieg würde alles besser. Das verfing aber nicht. Insbesondere Arbeiter durchschauten das, lehnten sich gegen den Krieg auf und machten letztlich Revolution. Doch als 1918 der Kaiser weg war, blieben die alten Eliten, nun mit sozialdemokratischem Einverständnis. In der Konterrevolution 1919 formierte sich jene faschistische Bewegung, die in der Krise ab 1929 die Versicherung des deutschen Monopolkapitals gegen eine neue Revolution und für eine imperiale Revanche war.

Was macht die Analyse dieser Epoche heute relevant?

Das 20. und 21. Jahrhundert versteht man nur mit der Vorgeschichte. Hier wurden Grundtendenzen, Strukturen und Ideologien erprobt für den Klassenkampf zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie, für den Übergang zum Imperialismus. Noch war manches unentschieden, anderes wurde vorgeprägt und kehrte später wieder – offener, brutaler, tödlicher.

Stefan Bollinger ist Historiker und Vizevorsitzender von »Helle Panke e. V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin«

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