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Aus: Ausgabe vom 27.08.2024, Seite 4 / Inland
Linkspartei vor Landtagswahlen

190 Milliarden und ein Zwerg

Linke fordert vor Landtagswahlen »neue Ostpolitik«. Schirdewan beschimpft BSW-Wechsler
Von Nico Popp
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Die meisten der alten Wähler sind weg: Wahlkampfstand der Linkspartei auf dem Erfurter Anger (15.8.2024)

Montag zur Mittagszeit im Berliner Karl-Liebknecht-Haus. Die wöchentliche Pressekonferenz der Bundesspitze der Linkspartei wird diesmal vom scheidenden Parteivorsitzenden Martin Schirdewan und dem sächsischen Spitzenkandidaten Stefan Hartmann bestritten. Es ist die letzte derartige Veranstaltung vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, bei denen die Partei mit katastrophalen Ergebnissen rechnen muss. In Sachsen, wo die Vorgängerpartei PDS vor 20 Jahren in die Nähe von 25 Prozent Stimmenanteil gekommen war, droht nun das Scheitern an der Fünfprozenthürde. In Thüringen, wo sie noch den Ministerpräsidenten stellt, muss mindestens mit einer Halbierung des 31-Prozent-Ergebnisses von 2019 gerechnet werden. Und in beiden Fällen mit einer Überflügelung durch das von ehemaligen Parteifreunden gegründete BSW.

Die letzte Gelegenheit also, um noch mit Inhalten sichtbar zu werden. Hartmann und Schirdewan nutzten sie am Montag für die Forderung nach einer »Investitionsoffensive für den Osten« im Umfang von etwa 190 Milliarden Euro. Schirdewan verlangte im Namen seiner Partei, die er als »Interessenvertretung der Ostdeutschen« bezeichnete, eine »neue Ostpolitik«. Es gehe dabei darum, nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, dass es Unterschiede bei Löhnen, Renten und Vermögen zwischen Ost und West gibt, sondern darüber hinausgehend auch Zukunftsperspektiven für Ostdeutschland aufzuzeigen. Zu würdigen sei außerdem die ostdeutsche »Transformationsleistung« in den vergangenen 34 Jahren.

Hartmann präzisierte: Wer der AfD in den Ostdeutschland den Wind aus den Segeln nehmen wolle, der müsse den über drei Jahrzehnten der ökonomischen und sozialen Benachteiligung der Ostdeutschen »ein Ende setzen«. Das geforderte Investitionsprogramm setze seine Partei den »Scheinlösungen der AfD«, aber auch der »Arbeitsverweigerung der Union« in Sachsen entgegen. Die 190 Milliarden seien ein Drittel des gesamten Investitionsbedarfs in der Bundesrepublik für die nächsten zehn Jahre. Für Sachsen bedeute das 44 Milliarden Euro in den nächsten zehn Jahren. Die Zahlen korrespondierten mit Ergebnissen einer Studie des DGB.

Dieses Geld solle nicht »mit der Gießkanne« verteilt werden, sondern etwa über einen Infrastrukturfonds Ost, durch den Energie- und Verkehrswende »zu zentralen Projekten der Investitionstätigkeit gemacht« werden würden. Das sei nicht ohne einen Politikwechsel sowohl im Bund als auch in den Ländern zu haben. Und man müsse weg von der Schuldenbremse. Das Festhalten insbesondere der sächsischen Landesregierung an einer besonders strikten Form der Schuldenbremse sei ein »extremes Risiko für den Industriestandort Sachsen«, so Hartmann.

Schirdewan setzte anschließend noch einen anderen Akzent, indem er zu einer kritischen Kommentierung der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik ansetzte. Die Stationierung solcher Angriffswaffen, mit denen von Deutschland aus russisches Territorium erreicht werden könne, sei politisch »hochproblematisch« und »hochumstritten«. Bodo Ramelow habe richtig gehandelt, als er eine Bundestagsdebatte zu dem Thema forderte. Diese Waffen seien im Kriegsfall Angriffsziele, da müsse man sich »ehrlich machen«. Deutschland mache sich damit zur Zielscheibe. Schirdewan forderte die Bundesregierung auf, einer Stationierung dieser Angriffswaffen »vehement zu widersprechen« und zudem grundsätzlich dafür zu sorgen, dass sie »die Kontrolle über alle in Deutschland stationierten Waffensysteme bekommt«.

Kurz nach diesem Ausflug in die große Politik holte Schirdewan die reale Krise seiner Partei ein. Angesprochen auf den am Montag bekanntgewordenen beabsichtigten Wechsel des ehemaligen Linke-Bundestagsabgeordneten Friedrich Straetmanns zum BSW fiel Schirdewan kurz aus der Rolle. Er erwarte, dass Straetmanns, der seit 2021 Staatssekretär im Justizministerium Mecklenburg-Vorpommerns ist, zurücktrete. Und er fügte hinzu: Der Mann sei ein »Charakterzwerg«. Davon abgesehen konzentriere man sich nicht darauf, »was eventuell Leute aus Karrieregründen für sich in Erwägung ziehen«.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (26. August 2024 um 22:58 Uhr)
    Was für ein Traumtänzer ist der Schirdewan, von den Herrschenden eine Würdigung der ostdeutschen Transformationsleistung zu fordern? Wie lange träumt der schon im Kapitalismus? Kriegs- und Waffentechnisch ist er immerhin schon auf dem Wissensstand der westdeutschen Nachrüstungsgegner der 80er Jahre. Was meine Lehrer schon sagten: Auch der gute Wille wird anerkannt.

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