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Aus: Ausgabe vom 27.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Literarische Listen

Paula Fürstenbergs Roman »Weltalltage« über Sprachverhältnisse und die Pathologie der Freundschaft
Von Dean Wetzel
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»Wem gehört die Geschichte eines Kranken, und wer darf wie davon erzählen?« – Paula Fürstenberg

Das Ausfüllen des Anamnesebogens steht am Anfang einer jeden Krankengeschichte. Sie beginnt mit dem Auflisten und Beschreiben der akuten Symptome. Über die akuten Symptome hinaus soll aber auch die vorausgegangene Krankengeschichte angegeben werden, und spätestens hier wird es knifflig. Was gehört in diese Geschichte rein, was nicht, und wo beginnt sie überhaupt? Allgemeiner gefragt: Kann so ein Anamnesebogen überhaupt die Geschichte eines Körpers wiedergeben?

Paula Fürstenbergs namenlose Erzählerin liebt Listen. Als Schriftstellerin und ausgewiesene Autorin des vorliegenden Romans liegt es somit nahe, ihn in verschiedenen Listen anzulegen. Sie beginnt Dinge, Zeichen, Metaphern und Erinnerungen zu benennen. Führt ein Sachverhalt nach dem anderen an, möglichst ohne etwas zu vergessen, und gleitet von der Liste in die Literatur. Zunächst erzählt sie jedoch die Geschichte von Max, ihrem besten Freund. Seine Krankengeschichte besitzt, wie es Geschichten so an sich haben, jedoch keine klaren Grenzen, reicht über seinen eigenen Körper hinaus und von außen wieder hinein. So lässt diese Geschichte sich nur über die seiner Familie, seines Umfelds sowie auch die seiner besten Freundin vermittelt darlegen.

Die wiederum besitzt selbst eine lange Krankenakte. Im Gegensatz zum Ausdruck »Ärzteodyssee«, spricht sie aber, in Anlehnung an Sisyphos, lieber von einer »Sisyphee«. 20 Jahre ohne Diagnose lassen kein anderes Bild zu. Und auch die endlich erfolgte Diagnose der Endometriose ist nur ein schwacher Erfolg, denn diese ist nicht zu heilen. Dahinter stehen dann noch unzählige Untersuchungen, ohne Antwort auf ihre unerklärlichen Schwindelanfälle. Schwindelanfälle, die Max aufzufangen pflegte. Damit war klar: Er ist der Gesunde und sie die Kranke. Doch schleichend kehrt sich dieses Verhältnis um.

Auf Max’ Familie liegt ein Fluch, der die Männer zu einem frühen Tod verdammt. Sein Großvater starb 1976 an den Spätfolgen einer Kriegsverletzung und sein Vater, der im VEB Chemiehandel gearbeitet hat, 1988 an einem Asthmaanfall. Und nachdem Max’ Onkel 2014 der Schwerkraft der deutschen Verhältnisse erlag und Suizid beging, verblieb Max, wie seine Großmutter zu seiner Beunruhigung bemerkt, der letzte Mann in seiner Familie. So sieht er sich zum einen dazu gezwungen, diese Rolle einzunehmen und befürchtet zugleich von dem Fluch, den die Erzählerin lieber als Wahn bezeichnet, heimgesucht zu werden. Ob Wahn oder Fluch, ist jedoch egal, denn Max geht an seiner Rolle und am Alltag unbemerkt zugrunde. Als die Erzählerin – »die schlechteste beste Freundin aller Zeiten« – es bemerkt, ist er schon längst in einer Abwärtsspirale gefangen.

Doch wie erzählt man eine solche Geschichte? Max’ beste Freundin, die als angehende Schriftstellerin dieser Frage in ihrem Roman nachgehen möchte, findet eine Möglichkeit in der rettenden Distanzierung der Abstraktion: Sie löst die Unmittelbarkeit des »Ich« von sich ab, um so eine Differenz zu sich selbst zu eröffnen, in der sie sich in einem distanzierten »Du« selbst ansprechen kann. In der Selbstdistanz des »Du« findet sie die Perspektive, unter der sie sich mit dem Problem, des in der Literatur vorherrschenden Schweigens des menschlichen Körpers und einer pathologisierenden Sprache auseinandersetzen kann.

Denn der Sprache hängt ein fundamentales Problem an: möchte sie den Körper darstellen, geschieht das nicht unmittelbar, sondern eben sprachlich vermittelt. Vermittelt über den eigenen Körper der Sprache, der nicht dem Ausgangskörper gleicht, sondern in einer fundamentalen Differenz zu diesem verbleibt. Auch die Behauptung ihrer Identität kann an diesem Unterschied nichts ändern, doch wer diesen Unterschied entdeckt, kann ihn nutzen und so etwas wie Identität in der Nichtidentität ergründen.

Paula Fürstenberg entfaltet in ihrem Roman nicht nur eine Poetik der Listen, sondern entwirft darüber hinaus auch eine negative Poetologie des Körpers, denn der leiblich-lebendige Körper ist in der Literatur nur über Umwege zu erfassen. Er stellt daher ein oft ignoriertes Problem dar. Fürstenberg hingegen nimmt sich der permanenten An- und Abwesenheit des Körpers innerhalb der Sprache sowie seiner Störungen, der Krankheiten, an und zeigt an dieser Stelle ein Problem auf, das es nicht direkt zu lösen, sondern zu entfalten gilt. »Weltalltage« ist ein wahrhaft listiger Roman.

Paula Fürstenberg: Weltalltage, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 320 Seiten, 23 Euro

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