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Aus: Ausgabe vom 27.08.2024, Seite 11 / Feuilleton
Alltag

Wer ist der alte Mann? Blick in den Spiegel

Von Marc Hieronimus
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Beim Rasieren durchaus hilfreich – der Spiegel

Donnerstag morgen, und der Mann im Spiegel sieht schon wieder einen Tag fremder aus. Wir machen uns gar nicht klar, dass wir ohnehin ein grundfalsches Bild von uns haben, nämlich unser Spiegelbild. Wer denkt nicht regelmäßig bei Fotos, er sei mal wieder nicht gut getroffen oder gar »Das bin ich nicht!«, denn man kennt sich ja nur aus dem Spiegel, und wenn selbst der uns am Morgen nicht mehr schmeichelt, wird es wirklich Zeit fürs Wochenende.

Was, wenn überdies die Psychophysiognomiker ein Fünkchen recht haben und die rechte nicht nur anders als die andere, sondern die »öffentliche« Gesichtshälfte ist, die linke aber unser Inneres zeigt? Dann hätten wir ein spiegelverkehrtes Bild sogar von unserem Wesen. Während wir es sonst gewohnt sind, Menschen mit einiger Treffsicherheit zu »lesen«, täuschten wir uns systematisch über uns selbst. Alles Esoquatsch? Dann mal in der nächsten Videokonferenz das eigene Bild entspiegeln und staunen, wie sich das anfühlt.

Der Spiegel ist bekanntlich auch als Zeitschriftentitel oder -namensbestandteil sehr beliebt. Die Nonsenskolumne »Welt im Spiegel« gab es als Nachdruck noch lange nach dem Niedergang der sie beherbergenden Pardon, die Frau im Spiegel druckt die Funkegruppe, den »Mann im Spiegel« (s. o.) kann, aber möchte man sich nicht vorstellen, das Hamburger »Sturmgeschütz der Demokratie« hingegen muss nicht vorgestellt werden. Wenn man bedenkt, dass es errichtet wurde, um das Volk dauerhaft an der Mitbestimmung insbesondere in der Eigentumsfrage zu hindern, ist der Name rückblickend gar nicht so schlecht gewählt.

In Arno Schmidts postapokalyptischer Laubsägearbeit »Schwarze Spiegel«, 70 Jahre später von Nicolas Mahler in Comicform illustriert, radelt der egozentrische Protagonist jahrelang durch die Menschenleere und ist gar nicht so unglücklich dabei. Als ihm nach Jahren eine Geschlechts- und Gesprächspartnerin zufällt, freut er sich dann freilich doch. Narziss ist in seinem Spiegelbild ertrunken. Das sollte eine Lehre sein.

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

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