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Aus: Ausgabe vom 29.08.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Landtagswahlen im Osten

Zwei Krisenwahlen

Auflösungserscheinungen des tradierten Parteiensystems: Am Sonntag wird in Sachsen und Thüringen gewählt
Von Nico Popp
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Kommt nicht mehr an: Zerstörte Wahlplakate von CDU, FDP und Grünen in Bad Lobenstein (24.8.2024)

In diesem Fall stimmt, was meist nur eine Phrase ist, tatsächlich mal: Die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen haben eine ganz erhebliche Bedeutung auch für die Bundespolitik. Gewählt wird in zwei Ländern, in denen das tradierte Parteiensystem der Bundesrepublik in Teilen zusammengebrochen ist. Die drei Parteien, die in Berlin regieren, müssen am Sonntag mit unterschiedlichen Graden der Gewissheit damit rechnen, dass sie aus den Landesparlamenten fliegen. Die CDU, die in beiden Ländern einmal Alleinregierungen stellte, hat in Sachsen kein Drittel und in Thüringen nur noch rund ein Fünftel der Wähler hinter sich. Und die Linkspartei, die in Thüringen seit 2014 den Ministerpräsidenten stellt, wird dort voraussichtlich mehr als die Hälfte ihrer Wähler von 2019 verlieren, während in Sachsen der Absturz unter die Fünfprozentmarke droht.

In beiden Ländern hat die AfD Aussichten, erstmals bei einer Landtagswahl stärkste Partei zu werden – ohne allerdings eine Regierungsoption zu haben. Alle anderen Parteien haben eine Koalitionsbildung mit der Rechtsaußenpartei ausgeschlossen. Möglich ist aber, dass die AfD in den beiden Landtagen jeweils mehr als ein Drittel der Abgeordneten stellt und damit fortan über eine Sperrminorität bei allen Abstimmungen verfügt, für die etwa in Thüringen eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist – zum Beispiel für die Auflösung des Landtages, die Wahl des Parlamentspräsidenten, Änderungen der Verfassung und Neubesetzungen von Richterstellen am Verfassungsgerichtshof.

Diese Wahlen sind ohne Zweifel Krisenwahlen. Es handelt sich hier allerdings nicht um eine Krise der politischen Herrschaft, sondern um Auflösungserscheinungen des tradierten Parteiensystems, die sich in der Hauptsache aus dem Umstand ergeben, dass in den beiden Bundesländern annähernd die Hälfte der Wählerschaft von den »etablierten« Parteien nicht mehr integriert werden kann. Das ist ernst genug, und es ist nicht ausgeschlossen, dass – sollten die Ampelparteien am Sonntag Schiffbruch auf der ganzen Linie erleiden – hier der erste Schritt zu vorgezogenen Neuwahlen auf Bundesebene gemacht wird, weil die Fliehkräfte in der Ampel zu stark werden.

Zunächst aber dürfte sich nach dem Sonntag die Diskussion um die Frage der »schwierigen« Regierungsbildung in den beiden Ländern drehen. Die Lage in Thüringen gilt als besonders kompliziert – und zwar besonders mit Blick auf den vorstellbaren Fall, dass der Landtag in Erfurt nur noch aus vier Parteien (AfD, CDU, BSW, Linke) besteht. Sollte die SPD doch in das Parlament rutschen, ist eine Regierung aus CDU, BSW und SPD am wahrscheinlichsten. Ein Selbstläufer ist das aber auch nicht.

So ist mitnichten ausgeschlossen, dass das BSW zweitstärkste Kraft wird und damit vor der CDU landet. Sollte das passieren, wird das die Lage zusätzlich komplizieren. Während die Thüringer Union nämlich bereit zu sein scheint, die Wagenknecht-Partei in eine parlamentarische Regierungsmehrheit zu integrieren (aber zuletzt erneut eine Koalition mit der Linkspartei ausgeschlossen hat), die einen CDU-Ministerpräsidenten ins Amt bringt, ist nicht recht vorstellbar, dass die CDU zur Verfügung stehen wird, um BSW-Spitzenkandidatin Katja Wolf zur Ministerpräsidentin zu machen. Die ehemalige Eisenacher Oberbürgermeisterin hat am Mittwoch gegenüber dem Portal Politico bekräftigt, dass das BSW Anspruch auf das Ministerpräsidentenamt erheben wird, wenn die Partei stärker abschneidet als die CDU. »Wenn wir vor ihm liegen«, sagte sie in Richtung von CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt, »dann sagen die demokratischen Spielregeln: Der Stärkste in der Koalition bestimmt natürlich das Personalangebot.«

Die BSW-Koparteichefin Sahra Wagenknecht hat zudem inhaltliche Vorgaben gemacht und es zur Voraussetzung einer BSW-Regierungsbeteiligung erklärt, dass eine solche Landesregierung »auch bundespolitisch klar Position für Diplomatie und gegen Kriegsvorbereitung« beziehen müsse. Das kann sich die junge Partei – erst recht nicht in einer von ihr geführten Regierung – kaum von CDU und SPD wieder abverhandeln lassen, ohne bei einem erheblichen Teil ihrer Wähler, denen vor allem die Friedensfrage wichtig ist, an Kredit einzubüßen.

Hintergrund: Rechte Schlagseite

In Thüringen können am Sonntag 1,66 Millionen Wahlberechtigte über die Zusammensetzung des neuen Landtages entscheiden. Der hat regulär 88 Sitze. 44 Mandate werden direkt in den Wahlkreisen, die anderen 44 über die Landeslisten vergeben. 15 Parteien treten mit Landeslisten an; das Spektrum reicht von der MLPD links bis zu Werteunion und AfD rechts. In Umfragen liegt die AfD seit langer Zeit deutlich vorn – sie kann mit mehr als 30 Prozent der Stimmen rechnen. Da alle anderen dafür relevanten Parteien eine Regierungsbildung mit der AfD ausgeschlossen haben, ist von erheblicher Bedeutung, welche Partei hinter der AfD zweitstärkste Kraft wird und damit gute Chancen hat, den nächsten Ministerpräsidenten zu stellen. Die CDU wird in den jüngsten Umfragen mit 20 bis 22 Prozent gemessen, das erstmals antretende BSW mit 20 Prozent oder knapp darunter. Der Linkspartei droht ein Absturz von 31 Prozent 2019 auf 15 Prozent oder weniger. Nahezu sicher nicht mehr im neuen Landtag vertreten sein werden die Grünen und die FDP, denen jeweils etwa drei Prozent prognostiziert werden. Die SPD liegt bei etwa sechs Prozent – alles andere als ein komfortabler Abstand zur Fünfprozenthürde. SPD und Grüne regieren in Thüringen seit 2014 zusammen mit der Linkspartei, die mit Bodo Ramelow ihren einzigen Ministerpräsidenten stellt. Die Regierungsparteien haben bereits seit 2019 im Landtag keine Mehrheit mehr; de facto wird die Regierung – ohne formelle Verabredung einer Tolerierung oder Duldung – von der CDU toleriert.

In Sachsen regiert seit 2019 eine Koalition aus CDU, SPD und Grünen; AfD und Linkspartei bilden die Opposition. In den letzten Umfragen lag mal die AfD und mal die CDU vorn; beide Parteien dürften bei oder knapp über 30 Prozent landen. Das BSW könnte aus dem Stand auf etwa 15 Prozent kommen. SPD und Grüne liegen in den jüngsten Wählerbefragungen jeweils knapp über fünf Prozent. Ein Desaster droht der Linkspartei, der derzeit vier Prozent prognostiziert werden. Sie muss möglicherweise auf zwei Direktmandate hoffen, um nicht in dem Bundesland, in dem sie lange ihren mitgliederstärksten Landesverband und die Vorgängerpartei PDS bei der Landtagswahl 2004 an die 25 Prozent der Wählerstimmen erhalten hatte, aus dem Landtag zu verschwinden. Wahlberechtigt sind in Sachsen am Sonntag 3,3 Millionen Menschen. 19 Parteien bewerben sich mit Landeslisten um die regulär 120 Sitze im Landtag. Das zur Wahl stehende Parteienspektrum weist eine deutliche Schlagseite nach rechts auf. Neben der AfD hoffen noch mehrere rechte Kleinparteien auf Stimmen, darunter Freie Sachsen, Bürgerrechtsbewegung Solidarität und Werteunion. (np)

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (28. August 2024 um 22:33 Uhr)
    Vielleicht sind die Wähler schlichtweg von der ewigen eigenen Krisen und Querelen der Partei genervt. Während die Linke in ostdeutschen Wahlen gegen ihre eigene Geschichte ankämpft, fehlt es an Vision und frischem Wind. Jugendliche suchen nach konkreten Lösungen und aufregenden Perspektiven, nicht nach der immer gleichen Rhetorik der Vergangenheit. In der dynamischen Krisenlandschaft von heute wirkt die Linkspartei oft wie ein Relikt, das nicht mehr in die Realität der neuen Generation passt.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Rainer Erich K. aus Potsdam (28. August 2024 um 20:11 Uhr)
    Man kann von der AfD halten, was man will. Man muss sie nicht mögen und man braucht sie nicht zu wählen. Aber ist es tatsächlich demokratisch, eine nach hiesigen Regeln möglicherweise von Millionen Bürgern gewählte Partei zu boykottieren? Fordert es nicht guter demokratischer Anstand, das Wählervotum zu respektieren und nicht Millionen Wähler vor den Kopf zu stoßen? Gibt es eine ähnliche »Ausschließerritis« in Italien oder Frankreich, wo extrem rechte Parteien zumindest toleriert werden und haben EU-Granden etwa ein Problem, mit der Neofaschistin Meloni vor den Kameras zu posieren? Oder liegt es nur daran, dass die neofaschistische Meloni-Partei sich für den Krieg der NATO-Marionette Ukraine gegen Russland engagiert und die AfD für Diplomatie und gegen Waffenlieferung an die Ukraine eintritt?

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