75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Donnerstag, 19. September 2024, Nr. 219
Die junge Welt wird von 2939 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 29.08.2024, Seite 4 / Inland
Debatte um Migration

Rhetorik des Spaltens

Nach Messerangriff in Solingen: Kritik von Grünen und SPD an Merz-Vorstoß. Union will »faktischen Aufnahmestopp«
Von Kristian Stemmler
4.jpg
»Vertrauliche und zielgerichtete Gespräche«: Kanzler Olaf Scholz (SPD) mit CDU-Chef Friedrich Merz

Die Instrumentalisierung des Messerangriffs in Solingen für Wahlkampfzwecke geht wie zu erwarten weiter. Mit seinen weitreichenden Vorschlägen für eine »Neuausrichtung« der Migrationspolitik hat CDU-Chef Friedrich Merz Kritik von SPD und Bündnis 90/Die Grünen geerntet, Zuspruch kam dagegen von der FDP. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erklärte am Dienstag abend im ZDF, das Individualrecht auf Asyl bleibe erhalten: »Das wird niemand mit meiner Unterstützung in Frage stellen.« Merz hatte am Dienstag nach einem Gespräch mit Scholz über die Konsequenzen aus dem Messerangriff erklärt, eine Änderung des Grundgesetzes, in dem das Recht auf Asyl geregelt ist, dürfe »kein Tabu« mehr sein.

Am Mittwoch kündigte Scholz Gespräche mit den Ländern und der Union über die Folgen aus dem Anschlag von Solingen an. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) werde »sehr zügig jeweils einen Vertreter des Vorsitzes und Kovorsitzes der Ministerpräsidentenkonferenz, Vertreter der größten Oppositionspartei und involvierte Bundesressorts zu vertraulichen und zielgerichteten Gesprächen über diese Frage einladen«. Weiter versprach der Kanzler: »Wir werden nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir werden Lehren ziehen.« Die Bundesregierung werde »zeitnah« ein Maßnahmenpaket vorlegen, ergänzte Regierungssprecher Steffen Hebestreit.

Der CDU-Chef ruderte unterdessen zurück. »Eine Änderung des Asylrechts im Grundgesetz fordern wir nicht«, heißt es in einem Schreiben von Merz an die Mitglieder seines Parteivorstandes, aus dem dpa zitierte. Dagegen verteidigte er seinen Vorschlag für einen Aufnahmestopp für Flüchtende aus Syrien und Afghanistan. Mit einer »Praxis der konsequenten Zurückweisung« an der Grenze von Personen ohne Einreiseerlaubnis würde es zu einem »faktischen Aufnahmestopp« von Asylsuchenden aus diesen Staaten kommen, heißt es in dem Papier.

Merz hatte am Dienstag außerdem die Erklärung einer »nationalen Notlage« ins Spiel gebracht, um EU-Recht auszuhebeln und eine Zurückweisung von Migranten zu erreichen, die zuerst in ein anderes EU-Land eingereist sind. Diesen Vorschlag wies Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) am Mittwoch zurück. Dem TV-Sender Sat. 1 erklärte er, ein solcher Schritt wäre rechtlich schwer umzusetzen. Zudem würden andere Länder mit der Problemlage allein gelassen, die das dann nicht vergessen würden. »So funktioniert Europa nicht«, sagte Habeck.

Dem CDU-Chef warf der Vizekanzler eine »Rhetorik des Spaltens« vor, weil dieser Scholz angeboten hatte, Gesetzesänderungen auch gegen den Willen der Ampelpartner von Grünen und FDP durchzusetzen. Auch SPD-Chefin Saskia Esken wies das Ansinnen zurück. »Natürlich werden wir nicht an Grünen und FDP, unseren Koalitionspartnern, vorbei so eine Zusammenarbeit machen«, sagte sie dem RBB.

FDP-Chef Christian Lindner bewertete Merz’ Angebot als Wahlkampfmanöver, zeigte sich aber gesprächsbereit gegenüber der Union. Die FDP sei offen für eine grundsätzliche Wende in der Migrations- und Asylpolitik in Zusammenarbeit mit der Union. Sie stehe zu überparteilichen Anstrengungen bereit, »neuen Realismus in der Migration von Bund und Ländern konsequent durchzusetzen«, so Linder gegenüber Bild. Die Vorschläge von Merz deckten sich stark mit denen der FDP.

Der Grünen-Kovorsitzende Omid Nouripour sagte dem Deutschlandfunk, er sei grundsätzlich bereit, über Vorschläge der Union zu sprechen, zweifelte aber deren Umsetzbarkeit an. Als Beispiel nannte er die Forderung, mit afghanischen Behörden über die Rücknahme abgelehnter Asylsuchender zu verhandeln. Wenn man mit den Taliban Deals mache, sei dies kein Beitrag zur Bekämpfung des Islamismus. Als »nicht ernst gemeint« bewertete Nouripour den Vorschlag des CDU-Chefs, eine »nationale Notlage« auszurufen. Irene Mihalic, parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion, warf Merz gegenüber Bild vor, zu zündeln. Er operiere mit dem Begriff »Notlage« und spreche damit »gewissermaßen ein Misstrauensvotum gegen unseren demokratischen Rechtsstaat aus, statt ihn gegen seine Feinde zu verteidigen«.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche:

  • Proteste gegen verschärfte Asylgesetze während der Innenminister...
    22.06.2024

    Die Richtung vorgegeben

    Bund und Länder einig bei Abschiebung von »Gefährdern«. Differenzen bei »Drittstaatenregelung«
  • Auch ein Thema der IMK: Verlagerung von Asylverfahren ins Auslan...
    20.06.2024

    Potsdamer Abschiebetreffen

    Brandenburg: Innenministerkonferenz begonnen. Beratungen über verschärfte Migrationspolitik. Flüchtlingsorganisationen kündigen Protest an
  • Abstimmung über den Gesetzvorstoß der Regierungskoalition im Ple...
    13.04.2024

    Mit Plaste auf Stimmenfang

    Bundestag: Ampel beschließt mit BSW und AfD Grundlage für bundesweite Einführung von Bezahlkarten