Rhetorik des Spaltens
Von Kristian StemmlerDie Instrumentalisierung des Messerangriffs in Solingen für Wahlkampfzwecke geht wie zu erwarten weiter. Mit seinen weitreichenden Vorschlägen für eine »Neuausrichtung« der Migrationspolitik hat CDU-Chef Friedrich Merz Kritik von SPD und Bündnis 90/Die Grünen geerntet, Zuspruch kam dagegen von der FDP. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erklärte am Dienstag abend im ZDF, das Individualrecht auf Asyl bleibe erhalten: »Das wird niemand mit meiner Unterstützung in Frage stellen.« Merz hatte am Dienstag nach einem Gespräch mit Scholz über die Konsequenzen aus dem Messerangriff erklärt, eine Änderung des Grundgesetzes, in dem das Recht auf Asyl geregelt ist, dürfe »kein Tabu« mehr sein.
Am Mittwoch kündigte Scholz Gespräche mit den Ländern und der Union über die Folgen aus dem Anschlag von Solingen an. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) werde »sehr zügig jeweils einen Vertreter des Vorsitzes und Kovorsitzes der Ministerpräsidentenkonferenz, Vertreter der größten Oppositionspartei und involvierte Bundesressorts zu vertraulichen und zielgerichteten Gesprächen über diese Frage einladen«. Weiter versprach der Kanzler: »Wir werden nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir werden Lehren ziehen.« Die Bundesregierung werde »zeitnah« ein Maßnahmenpaket vorlegen, ergänzte Regierungssprecher Steffen Hebestreit.
Der CDU-Chef ruderte unterdessen zurück. »Eine Änderung des Asylrechts im Grundgesetz fordern wir nicht«, heißt es in einem Schreiben von Merz an die Mitglieder seines Parteivorstandes, aus dem dpa zitierte. Dagegen verteidigte er seinen Vorschlag für einen Aufnahmestopp für Flüchtende aus Syrien und Afghanistan. Mit einer »Praxis der konsequenten Zurückweisung« an der Grenze von Personen ohne Einreiseerlaubnis würde es zu einem »faktischen Aufnahmestopp« von Asylsuchenden aus diesen Staaten kommen, heißt es in dem Papier.
Merz hatte am Dienstag außerdem die Erklärung einer »nationalen Notlage« ins Spiel gebracht, um EU-Recht auszuhebeln und eine Zurückweisung von Migranten zu erreichen, die zuerst in ein anderes EU-Land eingereist sind. Diesen Vorschlag wies Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) am Mittwoch zurück. Dem TV-Sender Sat. 1 erklärte er, ein solcher Schritt wäre rechtlich schwer umzusetzen. Zudem würden andere Länder mit der Problemlage allein gelassen, die das dann nicht vergessen würden. »So funktioniert Europa nicht«, sagte Habeck.
Dem CDU-Chef warf der Vizekanzler eine »Rhetorik des Spaltens« vor, weil dieser Scholz angeboten hatte, Gesetzesänderungen auch gegen den Willen der Ampelpartner von Grünen und FDP durchzusetzen. Auch SPD-Chefin Saskia Esken wies das Ansinnen zurück. »Natürlich werden wir nicht an Grünen und FDP, unseren Koalitionspartnern, vorbei so eine Zusammenarbeit machen«, sagte sie dem RBB.
FDP-Chef Christian Lindner bewertete Merz’ Angebot als Wahlkampfmanöver, zeigte sich aber gesprächsbereit gegenüber der Union. Die FDP sei offen für eine grundsätzliche Wende in der Migrations- und Asylpolitik in Zusammenarbeit mit der Union. Sie stehe zu überparteilichen Anstrengungen bereit, »neuen Realismus in der Migration von Bund und Ländern konsequent durchzusetzen«, so Linder gegenüber Bild. Die Vorschläge von Merz deckten sich stark mit denen der FDP.
Der Grünen-Kovorsitzende Omid Nouripour sagte dem Deutschlandfunk, er sei grundsätzlich bereit, über Vorschläge der Union zu sprechen, zweifelte aber deren Umsetzbarkeit an. Als Beispiel nannte er die Forderung, mit afghanischen Behörden über die Rücknahme abgelehnter Asylsuchender zu verhandeln. Wenn man mit den Taliban Deals mache, sei dies kein Beitrag zur Bekämpfung des Islamismus. Als »nicht ernst gemeint« bewertete Nouripour den Vorschlag des CDU-Chefs, eine »nationale Notlage« auszurufen. Irene Mihalic, parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion, warf Merz gegenüber Bild vor, zu zündeln. Er operiere mit dem Begriff »Notlage« und spreche damit »gewissermaßen ein Misstrauensvotum gegen unseren demokratischen Rechtsstaat aus, statt ihn gegen seine Feinde zu verteidigen«.
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