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Aus: Ausgabe vom 29.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Reisebild

Nicht einfach so vergessen

Antifaschisten auf den Spuren ihrer Vorbilder. Aus der Fränkischen Schweiz
Von Hendrik Pachinger
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Ludwig Göhring führt Jugendliche durch die Höhle (1975)

Aufbruch am Sonntag morgen in Nürnberg. Fast eine Woche lang hatte sengende Hitze die Region geplagt, am ersten Tag der Reise sorgten Regenfälle für Temperaturen unter 30 Grad Celsius. Ziel der Wanderung war die »Druckerhöhle«. Dem Aufruf von DKP und SDAJ folgten auch Gewerkschafter, Mitglieder der Roten Hilfe und des VVN-BdA sowie Nachfahren von Verfolgten des Naziregimes.

Eine halbe Stunde mit der Bahn, und man ist in Neuhaus. Keine 2.500 Menschen leben in dem Ort, der in eine Flusswindung der Pegnitz gepresst liegt. Die Burg Veldenstein ragt heraus, eine 750 Jahre alte Wehranlage, die nach Frankens Eingliederung in Bayern häufiger den Besitzer gewechselt hat. Der letzte: ein gewisser Hermann Göring, der hier zur Schule gegangen war und Chef der Luftwaffe im Nazireich wurde. Nach dem Kauf ließ er großzügige Umbauten unternehmen, das Gelände sollte sein liebster Jagdsitz werden. Mit der Arisierung einer jüdischen Kondomfabrik in Berlin verschaffte der Reichsmarschall sich das nötige Kleingeld dazu.

Der Eingang zur Druckerhöhle findet sich nicht so leicht. Verständlich, sie diente antifaschistischen Widerstandskämpfern als Versteck. Ein winziger Felsvorsprung weist auf die Grotte hin. Dort zeigt Wanderführer Gustl Ballin auf eine Gedenktafel für den Drucker Ludwig Göhring. Der sei Teil jener Widerstandsgruppe gewesen, die im Süden Nürnbergs eine provisorische Druckerei eingerichtet hatte, um sich auf die kommende Arbeit in der Illegalität vorzubereiten, bis der Standort gewechselt werden musste. »Zeitungen wurden händisch gekurbelt, was einen Heidenkrach verursachte. Für kurze Zeit war das kein Problem, auf Dauer waren aber die Genossen, die Schmiere standen, und der Lärm nicht zu verbergen«, erklärt Ballin. Bei der Suche nach einer Alternative sei man auf die Höhle gekommen. Genossen, die sie erreichen wollten, tarnten sich als Wandergruppen.

Zwischen Mai und August 1933 wird Ludwig Göhring viermal hierherkommen, den Rucksack voller Farbe und Zeitungspapier. Das ganze Wochenende verbringt er in der Grotte, die einen schmalen Eingang hat, hinter dem sich eine etwa zehn Meter tiefe Schlucht befindet. Bis zu 2.000 Zeitungen werden an einem Wochenende abgezogen und in Koffern zum Nürnberger Ostbahnhof geschleust. Dort warten Kuriere, die sie in der Stadt unter die Leute bringen.

Am 12. August passiert Schreckliches. Ein Kurier verspätet sich und lässt Ludwig mit einem Koffer am Bahnsteig warten. Er fällt einer Hausfrau auf, die ihn bei einem SA-Mann denunziert. Nach drei Tagen Folter in einem SA-Sturmlokal folgen elf Jahre Odyssee: Der Standort der Druckerei wird aus ihm herausgeprügelt, seine Genossen aber verrät er nicht. Die SA-Schläger zwingen ihn, in die Höhle hinabzusteigen und die Zeitungsproduktion für die Öffentlichkeit nachzustellen. Es folgen 14 Monate Einzelarrest, zwei Jahre Strafhaft in der JVA Nürnberg. Danach wird er ins KZ Dachau überstellt. Weitere Stationen: die Lager Flossenbürg (Oberpfalz) und Neuengamme (bei Hamburg). 1944 wird er in die brutale Waffen-SS-Sondereinheit »Dirlewanger« gesteckt. Beim ersten Angriff setzt Göhring sich ab zur Roten Armee, für die er bis zum Ende des Kriegs Agitationsarbeit an der Front leistet. Auch nach 1945 bleibt er gegen Faschisten aktiv, tritt in die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes ein.

»Gerade in der heutigen Zeit ist Erinnerungsarbeit kein Selbstzweck. Sie ist Motivation zum Weitermachen. Man kann die Widerstandskämpfer doch nicht einfach so vergessen. Ihre Opfer mahnen zum Kampf, ihre Geschichten können inspirieren«, erklärte Tatjana Sambale, Mitglied des bayerischen Landesvorstands der VVN-BdA, den Teilnehmern der Wanderung, die Blumen zum Gedenken für Göhring niederlegen.

Aus den klatschnassen Rucksäcken werden Transparente, Schilder und Fahnen geholt. Und eine Botschaft für die in Nürnberg inhaftierte Antifaschistin Hanna. Eine Vertreterin der Roten Hilfe Nürnberg sagt: »Unsere Genossin liebt die Natur und würde sicherlich Gefallen an unserer Reise finden. Sobald sie wieder bei uns ist, werden wir gemeinsam hierher zurückkehren.«

Als sich die Reisegruppe wieder Richtung Heimat begibt, ertönt »Bella Ciao« im Wald. Die Sonne scheint wieder.

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  • Leserbrief von Barbara Hug aus Schweiz (2. September 2024 um 15:01 Uhr)
    Als die Druckerhöhle entdeckt worden war und die grausame Aktion der SA-Schergen stattfand, befand sich auch Oskar Pflaumer unter den Festgenommenen. Er sollte nicht vergessen werden bei diesem Reisebild, das ja der Erinnerung dient. Er starb in derselben Nacht an den erlittenen Folterungen. Barbara Hug/Schweiz

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