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Aus: Ausgabe vom 30.08.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Das Floß der Verdammten

»Das leere Meer, es schreit«

Zum »Floß der Verdammten« und zur Tonkunst Hannes Zerbes
Von Gisela Sonnenburg
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Leise plätschern die Meereswellen. In der Komposition »Das Floß der Verdammten« von Hannes Zerbe scheint die todbringende See zunächst harmlos. Die Szene pulsiert vom metallenen Atem des Schlagzeugs. Eine Anbahnung wie bei Kurt Weill, dann setzt der Konzertflügel ein, an den Tasten Zerbe.

Vier stolze Schiffe, angeführt von der Fregatte »Méduse«, machten sich im Juni 1816 von Rochefort (Frankreich) gen Senegal (Afrika) auf. Dunkle Klänge verheißen die nicht berechenbaren Tiefen des Wassers. Zum Verhängnis aber wird der »Méduse« eine Untiefe: Sie setzt auf einem Riff auf. In der Musik blubbert es und schubbert es, die Klarinette (Jürgen Kupke) und das Altsaxophon (Silke Eberhard) holen mit Verve aus, ein großangelegter Tusch krönt den unglücklichen Stopp.

Knapp 400 Menschen sind an Bord. Der Sprecher Rolf Becker vermag mit dramatischer wie sachlicher Tonlage davon zu berichten. Wie die Reichen und die mit den guten Beziehungen sich retten, die Beiboote betreten, während die anderen an der Reling stehen. Mit den Reichen macht die Hoffnung sich davon. 154 Seelen krallen sich an den letzten Rest, ein Floß aus Masten und Seilen gebaut. Die Beiboote sollen ziehen, doch das Seil wird zerschnitten. Die Axt der Reichen stellte sich über das Gesetz. »Die Sekunden laufen leer«, heißt es im Libretto von Ernst Schnabel. Der Text entstand 1968, zur Partitur des Oratoriums »Das Floß der Medusa« von Hans Werner Henze.

2019 hat sich mit Zerbe ein neuer Kompositeur des Themas bemächtigt. Er braucht kein großes Orchester, keinen Chor, keinen Sopran. Nur das Klavier, die Klarinette, das Sax, das Schlagzeug (Christian Marien). Zerbe versteht sich auf intensive, auch intime Klänge. Ein wildes, atonales Quäken verbindet ihn mit Henze. Quinten und der Tritonus erscheinen in den Tonreihen. Die Hitze zeitigt lange Töne. »Das leere Meer, es schreit!« Das Blech grunzt. Die Zahl der Nochlebenden wird kleiner. Das Floß im Untergang ist ein Symbol, steht für all jene, die im Stich gelassen wurden. Frontex und die Boatpeople kommen einem in den Sinn, aber auch Verrat allgemein. Einzelne Töne des Pianos verschwimmen. Ein Klangteppich aus Trauer legt sich über alles. Ein heller, greller Ton ist da. Hoffnung? Jean-Charles, der Mulatte mit dem roten Tuch in der Hand, ist der letzte Lebende. Als er am 17. Juli auf dem Floß des Todes gefunden wird, liegt er im Koma. Und erwacht nie mehr.

Andere erlagen zuvor der Agonie, durstig bis zum Wahn. Weitere wurden totgetrampelt. Es gab Kannibalismus. Schräg und absinkend verhält sich die Melodie. Der Rhythmus drängt. Drängt weiter. Wie bei Henze spiegelt er am Ende die Ho-Chi-Minh-Rufe der protestierenden Studenten. Hoffnung keimt. Dann bricht der Ton ab. Einfach so. Denn den Toten ist alles genommen. Die Liebe wurde erhängt. Das Meer verschlang sie. Madame La Mort trägt die Krone. Und es ist wieder ganz still. Totenstill. Alles umsonst. Umsonst?

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