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Aus: Ausgabe vom 31.08.2024, Seite 12 / Thema
Zweiter Weltkrieg

Den Frieden im Mund

Deutschland wurde unter den Nazis wieder wirtschaftlich und militärisch kriegstüchtig, dann wurde »zurückgeschossen«. Vor 85 Jahren begann mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg
Von Manfred Weißbecker
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Einmarsch der Naziwehrmacht in Warschau (1.10.1939)

»Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt. / Das Unerhörte ist alltäglich geworden.« (Beginn des Gedichts »Alle Tage« von Ingeborg Bachmann, 1952)

Vor nunmehr 85 Jahren begann mit dem Zweiten Weltkrieg die abscheulichste »Zeitenwende« des 20. Jahrhunderts. Ihre Vorgeschichte hatte jedoch bereits mit dem Ersten Weltkrieg und seinem Ende angefangen. Mit dem Blick zurück kann, nein, muss gefragt werden, ob wir nach der 2022 proklamierten »Zeitenwende« wieder eine Vorgeschichte des dritten oder – ja nach Titulierung des Kalten Krieges – vierten Weltkrieges erleben. Die materiellen, politischen und geistigen Wege von Kriegstüchtigkeit zu Kriegswilligkeit können kurz sein. Mitunter wird sogar davon gesprochen, dass der neue Weltkrieg bereits ausgebrochen sei und möglicherweise als selbstmörderischer Weltenbrand enden werde. Über den Tag seiner Entfesselung würden Historiker, so noch am Leben, nachzudenken haben …

Das Datum des Startschusses für den bisher größten Krieg der Menschheitsgeschichte gilt als ausgemacht: der 1. September 1939. Alles, was an diesem Tag und danach geschah, ist inzwischen vielfach erforscht und dargestellt worden. Erneut ist jedoch an die Ergebnisse von Geschichtswissenschaft und anderen Wissenschaftsdisziplinen einschließlich der Psychologie zu erinnern, auch wenn nach wie vor unterschiedliche Deutungen existieren. Zumeist wird Adolf Hitler – die Kriegsursachen strikt personifizierend – die entscheidende Rolle zugeschrieben. Das mag für das Datum zutreffen, jedoch nicht für den relativ kurzen Weg, den nationalistische, militaristische, völkisch-faschistische und rassistischen (Un) Geist verbreitende Teile der deutschen Eliten vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg gingen, hoffend auf neue Reichsgrenzen, neue Rohstoffquellen und enorme Profite. Die Ursachen der Kriegsentfesselung am ersten Septembertag des Jahres 1939 sind bereits in der 1918 beginnenden Nachkriegszeit zu erkennen, als sich führende Militärs, Politiker und sogenannte Denker die Köpfe darüber zerbrachen, wie ein neuer Krieg aussehen müsste und wie dafür am effektivsten aufzurüsten sei. Rasch stand die Idee im Vordergrund, dass ein Krieg nur gewonnen werden könne, wenn er sowohl nach innen als auch nach außen als ein »totaler« geführt würde.

Bereits in der Mitte der 1920er Jahre sowie während der großen Weltwirtschaftskrise von 1929/32, erst recht nach dem 30. Januar 1933, wurden zahlreiche Denkschriften und Studien erarbeitet. Alle Warnungen vor neuem Völkermord und weltweiten Zerstörungen – ausgesprochen nicht allein von den Kommunisten – wurden zielbewusst bestritten. Wir wissen: Es gelang, sie ungehört verhallen zu lassen. Schließlich endete am 1. September 1939 abrupt eine Zeit, in der zwar viel vom Frieden geredet und in Weimarer Jahren auch einiges für ihn getan worden war, zugleich aber ein neuer Krieg ideell, konzeptionell und praktisch vorbereitet wurde.

Nur zur »Verteidigung«

Am Tag des Kriegsbeginns erschien Hitler in den Vormittagsstunden vor den eilig herbeigerufenen Abgeordneten des Deutschen Reichstages im feldgrauen Tuch der Wehrmacht, also anders gekleidet als sonst; man kannte ihn ja fast nur in seiner braunen Parteiuniform oder im zivilen Frack. Der Kleidungswechsel setzte mehr als nur ein symbolisches Zeichen, denn es hieß, er habe »wieder jenen Rock« angezogen, der ihm seit 1914 immer »der heiligste und teuerste« gewesen sei. Er wolle nichts anderes mehr sein als der »erste Soldat des Deutschen Reiches«. Mehrfach und nachdrücklich verwies Hitler auf den Weltkrieg von 1914/18. Damit war ein innerer Zusammenhang zwischen dessen Beginn und dem neuen Krieg hergestellt, was wohl weniger auf eine bloße Aufeinanderfolge oder einfache Wiederholung hinwies, sondern eher als ein selbstverständlich Fortzusetzendes verstanden werden sollte.

Hitler verkündete, dass seit 5:45 Uhr gegen Polen marschiert und »zurückgeschossen« werde, und bezeichnete den – übrigens sehr sorgfältig als »Fall Weiß« vorbereiteten – Überfall auf Polen als schicksalhafte Notwendigkeit zur »Verteidigung« Deutschlands. Der Krieg sei dem Vaterland aufgenötigt worden, und es gehe lediglich um einen »Abwehrschlag« gegen Polen sowie um eine »Wiederherstellung der deutschen Souveränität«. Deutlich benannte er, bis zu welchem Ende selbst mit großen zu erbringenden Opfern gekämpft werden solle: Der neue Krieg werde »mit allen Mitteln« bis zu einem Sieg geführt und keinesfalls wie im November 1918 mit einer »Kapitulation« enden.

Da konnte sich gewiss der eine oder andere Zuhörer auch an Kaiser Wilhelms II. Rede vom 6. August 1914 erinnern. In der hieß es, der neiderfüllte Feind habe schon lange zum Krieg gerüstet und nun Deutschland »mitten im Frieden« überfallen. Es gelte sich zu wehren, und das »bis zum letzten Hauch von Mann und Ross«, denn es gehe um »Sein oder Nichtsein deutscher Macht und deutschen Wesens«. Dem entsprach, dass die 1917 gegründete Deutsche Volkspartei, eine Vorläuferin der NSDAP, einen »Siegfrieden« zur Unterwerfung großer Teile Europas forderte und hemmungslos alle bekämpfte, die für Verständigung und Frieden eintraten.

25 Jahre darauf wurden andere Wörter verwendet, doch ihr Sinn war offensichtlich der Gleiche. Allerdings hielt man sich noch zurück mit der vor 1914 gern benutzten Phrase, Deutschland sei »umzingelt« von Feinden. Statt dessen hieß es in der Absicht, einen Zweifrontenkrieg zu vermeiden, dass der Frieden im Osten »kein anderer« sein dürfe als der an den übrigen Grenzen Deutschlands, wobei der sogenannte Westwall »für alle Zeiten die Grenze des Reiches« darstellen würde. Hitler wollte mit solchen und anderen Behauptungen glauben machen, es sei das von außen »aufgezwungene« Kriegsinteresse Deutschlands territorial begrenzt und richte sich lediglich darauf, die sogenannten Unruhestifter in Warschau zu zwingen, endlich Frieden zu geben und zu halten. Die Beteuerung, es gäbe über die mit Polen zu regelnden Fragen hinaus keinerlei weitere deutsche Forderungen an irgend jemanden, richtete sich insbesondere an die Regierungen Großbritanniens und Frankreich. Deren Appeasement-Politik hatte das faschistische Regime in Deutschland bislang erheblich gestärkt; nun wurde auf ihre Fortsetzung spekuliert.

Verschweigen, lügen, täuschen

Verlogen war vor 85 Jahren in Hitlers Rede jedes Wort, selbst die Zeitangabe. Zweifelsfrei belegen das zahlreiche Dokumente, die aus den 1920er und 1930er Jahren stammen, wie – mit aktuellen Schlagworten formuliert – Kriegstüchtigkeit geschaffen und darauf beruhend ein Anlass zur Kriegseröffnung gesucht worden war. Natürlich verlor Hitler an jenem ersten Tag des so entfesselten Zweiten Weltkrieges kein Wort über die geheimen Einsätze deutscher Spezialkommandos gegen den Sender Gleiwitz und in anderen deutsch-polnischen Grenzorten. Diese sollten Attentate polnischer Freischärler auf deutsche Einrichtungen vortäuschen, also einen Vorwand zum Losschlagen liefern. Den Befehl zur Vorbereitung solcher »Zwischenfälle« hatte Reinhard Heydrich, der Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS, mit den Worten begründet: »Ein tatsächlicher Beweis für polnische Übergriffe ist für die Auslandspresse und für die deutsche Propaganda nötig.« Und offenherzig hatte Hitler den am 22. August bei ihm versammelten Oberbefehlshabern der Wehrmacht versichert: »Die Auslösung des Konfliktes wird durch geeignete Propaganda erfolgen. Die Glaubwürdigkeit ist dabei gleichgültig, im Sieg liegt das Recht.«

Vor allem äußerte sich Hitler am 1. September 1939 nicht zu dem, was langfristig ins Visier von großen Teilen der deutschen Eliten in Wirtschaft, Politik und Ideologie genommen worden war und wofür mit dem blitzartigen Überfall auf den östlichen Nachbarstaat ein entscheidender Schritt getan wurde: Vorherrschaft Deutschlands in Europa und in der Welt, Ausweitung der Grenzen des Großdeutschen Reiches durch militärische Eroberung und Eingliederung fremder Gebiete im Osten, Errichtung brutaler Okkupationsregime zu hemmungsloser wirtschaftlicher Ausplünderung der besetzten Länder, Sicherung der Macht in einem »Großgermanischen Reich« durch terroristische Unterdrückung jedweder Opposition und physische Vernichtung von Widerstandskämpfern, barbarischer Massenmord und Ausrottung anderer Völker, insbesondere der europäischen Juden. Und selbstverständlich »vergaß« Hitler zu erläutern, dass ihm – und ebenso einem großen Teil der führenden deutschen Militärs – die Situation im Spätsommer 1939 für die Entfesselung eines Krieges so günstig wie nie zuvor und später nicht mehr möglich erschienen war.

Um so deutlicher konnte Hitlers Rede entnommen werden, dass Kriegs- und Siegeswille der deutschen Machthaber kaum mit dem Denken und Verhalten eines doch recht großen Teils der Bevölkerung übereinstimmten. Der Krieg ließ sich nicht ohne Propaganda führen. Schon zuvor, also auch in der Weimarer Republik, war nach irreführenden Argumenten zur Legitimation der Aufrüstung gesucht worden, nach Propagandathemen, die als besonders wirkungsmächtig galten und die sich in der Tat dann vor allem in den ersten, für die Nazis ja recht erfolgreichen Kriegsjahren als verhängnisvoll erweisen sollten: Völkisch-nationalistische Feindbilder, Schuldzuweisungen an die Gegner in Ost und West, Behauptungen über eine geistig-kulturelle und physische Minderwertigkeit von Juden, Slawen, Farbigen und Andersdenkenden, ein überheblich-deutschtümelndes Eigenbild, Szenarien eines drohenden Weltunterganges, In-Aussicht-Stellen von Anteilen an der Beute nach dem Gewinn neuen »Raumes«, Glorifizierung angeblicher Heldentaten usw.

Dennoch: Die Nazis durften 1939 keine Wiederkehr der euphorischen Begeisterungsstürme von 1914 erwarten, obwohl sie sich gern darauf beriefen, und einige fanatische NSDAP-Mitglieder sich lautstark für einen Kriegseinsatz meldeten. Zu nachhaltig erinnerten sich viele Deutsche an die Entbehrungen und Schrecken des erst zwei Jahrzehnte zuvor beendeten Weltkrieges. Was sich an Opfern im Gedächtnis eingeprägt hatte, konnte nicht einfach beiseite geschoben werden. Zudem war bei jenen, die seit 1918 »Nie wieder Krieg« gefordert hatten, weitgehend die Illusion zerstört, dass Deutschland lediglich einen Verteidigungskrieg geführt habe. Und es lag auch nicht in unmittelbarem Interesse der Naziführung, allzu offen kriegerisch in Erscheinung zu treten, hatte sie doch selbst jahrelang offiziell und lautstark den Frieden als ihr großes Ziel ausgegeben.¹

Widersprüche der Demagogie

Einen entscheidenden Beweis für die unter den Deutschen vorherrschende Kriegsfurcht und eine fehlende Kriegswilligkeit hatte Hitler ein knappes Jahr zuvor selbst geliefert. Erhalten blieb der Text einer Rede, die er am 10. November 1938 vor rund 400 Pressevertretern gehalten hatte. Diese Rede darf als ein enthüllendes und die Nazis bloßstellendes Schlüsseldokument gelten. In ihrem Mittelpunkt stand »die Aufgabe einer langsame(n) Vorbereitung des deutschen Volkes« auf einen Krieg. Offenherzig bekannte Hitler, »jahrzehntelang fast nur vom Frieden« geredet zu haben, weil »nur unter der fortgesetzten Betonung des deutschen Friedenswillens und der Friedensabsichten« eine Aufrüstung möglich gewesen sei. Weiter hieß es: »Es ist selbstverständlich, dass eine solche jahrzehntelang betriebene Friedenspropaganda auch ihre bedenklichen Seiten hat; denn es kann nur zu leicht dahin führen, dass sich in den Gehirnen vieler Menschen die Auffassung festsetzt, dass das heutige Regime an sich identisch sei mit dem Entschluss und dem Willen, den Frieden unter allen Umständen zu bewahren.«

Deutlicher konnte wohl kaum jener große Gegensatz formuliert werden, der damals (und wohl auch zu allen Zeiten und überall) darin bestand, dass einerseits sich Menschen mehrheitlich friedliche Verhältnisse und diplomatische Lösungen von Konflikten wünschen und andererseits regierende Minderheiten – wirtschaftliche, politische, militärische und geistige Eliten – eigene Ziele selbst mit militärischer Gewalt durchzusetzen bereit sind. Hitler warnte davor, zu viel Gerede über den Frieden könne »nur zu einer falschen Beurteilung der Zielsetzung dieses Systems führen«. Nein, es würde, so in verquastem Stil formuliert, »vor allem auch dahin führen, dass die deutsche Nation, statt den Ereignissen gegenüber gewappnet zu sein, mit einem Geist erfüllt wird, der auf die Dauer als Defaitismus gerade die Erfolge des heutigen Regimes nehmen würde und nehmen müsste«.

Ein Denken in den Kategorien des Friedens statt in denen des Krieges wurde als Bedrohung der eigenen Macht beurteilt, das zudem sehr hart zu bestrafen sei. Das galt indessen für die NSDAP keineswegs erst ab 1938/39: Bereits im Jahr 1930 hatte ihre Reichstagsfraktion – um nur ein Beispiel ihrer militaristischen Grundorientierung zu benennen – dem deutschen Parlament einen Gesetzentwurf vorgelegt. Darin war zu lesen, wer »zur Kriegsdienstverweigerung oder zu sonstigen, die Landesverteidigung gefährdenden Maßnahmen auffordert, oder wer sich selbst der gesetzlichen Pflicht zur persönlichen Dienstleistung entzieht, wird wegen Wehrverrats mit dem Tod bestraft«.

Angst zu schaffen vor solch einer Verurteilung gehörte zu wesentlichen Bestandteilen der propagandistischen Kriegsvorbereitung. Auch dafür benannte Hitler in seiner Rede vom 10. November 1938 – zeitgleich übrigens zu den Feiern am 15. Jahrestag des Putsches in München und des großen Pogroms gegen deutsche Jüdinnen und Juden – die zu verwendenden Mittel: Es sei »notwendig, das deutsche Volk psychologisch allmählich umzustellen und ihm langsam klarzumachen, dass es Dinge gibt, die, wenn sie nicht mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden können, mit Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden müssen«. Das sah sich verknüpft mit Hinweisen zu den Methoden: Es gelte, »nicht etwa nun die Gewalt als solche zu propagieren«, sondern es sei »notwendig, dem deutschen Volk bestimmte außenpolitische Vorgänge so zu beleuchten, dass die innere Stimme des Volkes selbst langsam nach der Gewalt zu schreien beginnt«. Im »Gehirn der breiten Masse des Volkes« sei ganz automatisch und allmählich die Überzeugung auszulösen: Wenn man etwas »nicht im Guten abstellen kann, dann muss man es mit Gewalt abstellen«.

Was hier so ausführlich zitiert wurde, veranlasst vielleicht auch zu einer Frage, die über die Vorgeschichte des 1. September 1939 hinausgeht und ebenso für das Tun und Lassen Regierender in anderen Zeiten und anderen Ländern zu stellen sinnvoll wäre: Handelte es sich bei Hitlers mehr als deutlichen Aussagen um eine als faschistisch zu bezeichnende Propagandamethode oder um eines der Herrschaftsmittel der deutschen Faschisten? Im Erinnern an den 1. September 1939 und für das allgemeine Interesse an politischen und geistigen Auseinandersetzungen zum großen Thema Krieg oder Frieden könnten gerade jetzt unter den Linken wie auch unter Faschismusforschern klärende Debatten sicher nützlich sein.

»Seelische Bereitschaft« herstellen

Noch vor dem Abschluss der Kämpfe in Polen meinte Joseph Goebbels in seinen »Gedanken zum Kriegsbeginn 1939«, es dürfe die »Kampfentschlossenheit (…) kein Gefälle nach abwärts erfahren«. Notwendig sei deren »fortgesetzte Steigerung mit immer bewussterer und zäherer Erfassung des politischen Kampfzieles«. Gesteigerte Kampfbereitschaft sei herstellbar, wenn durch die Propaganda »die heutige Ausgangssituation immer mehr verdeutlicht, die negativen Einflüsse ausgeschaltet und das positive Kriegsziel klar herausgestellt werden«. Die »seelische Bereitschaft« der Massen sei eine Bedingung für den Krieg, »wie lange er auch dauern sollte«. Im Grunde wurde bereits im September 1939 auf eine lange Dauer des Krieges und auf den Krieg als »Normalzustand« orientiert. Faschismus, so lässt sich durchaus schlussfolgern, bedeutet also nicht allein, Kriege mit allen wirtschaftlichen, militärischen, politischen und propagandistischen Mitteln führen zu wollen, sondern nach alltäglicher Kriegsnormalität in der Gesellschaft zu streben.

Im Grunde war von deutschen Militärs und Politikern schon lange zuvor auf eine »totale Kriegführung« orientiert worden, auch wenn Goebbels darüber in der Öffentlichkeit erst im Februar 1943 sprach und zugleich die schauerliche Mär verbreitete, ein »totaler Krieg« sei der kürzeste Weg zum Frieden. Bereits seit den 1920er Jahren hatten die Auffassungen von Militärs und führenden Vertretern der NSDAP zum politischen und militärischen Charakter des angestrebten Krieges übereingestimmt. Für notwendig hielten sie eine unbegrenzte Unterstützung des Krieges durch die Bevölkerung, um ihre weitgespannten expansionistisch-rassistischen Kriegsziele erreichen zu können. Rasch verdichtete sich das Gerede von einem »totalen Krieg« zu einer Theorie vom gesamtgesellschaftlichen Charakter kriegerischer Auseinandersetzungen. Alles zielte auf die Einheit von militärischem Krieg, Wirtschaftskrieg und Propagandakrieg.

Zwar ging von der Weimarer Republik kein Krieg aus, doch es wurde schon vor 1933 in Deutschland intensiv über dessen Notwendigkeit und seine neuen Erfordernisse nachgedacht. So wurde am 11. April 1923 in einem Schreiben der Zentralabteilung des Reichswehrministeriums an die Chefs verschiedener Ämter und Abteilungen gefordert, »das Volk durch planmäßige Propaganda auf die Anforderungen eines künftigen Krieges einzustellen«. Am 7. Dezember 1923 erklärte Kurt von Schleicher als Chef der Politischen Abteilung im Truppenamt der Reichswehr: »Das Ziel ist 1. Stärkung der Staatsgewalt, 2. Sanierung der Wirtschaft, 3. Wiederaufbau der Wehrhaftigkeit; alles Vorbedingungen für eine Außenpolitik, die ein Großdeutschland zum Ziel hat.« Im Mai 1924 beriet man im Reichswehrministerium über eine »Denkschrift über die geistige Kriegsvorbereitung des Volkes«, in der es hieß: »Denn ehe das Volk nicht geistig auf einen Krieg eingestellt ist, kann mit der Schaffung von Grundlagen für die personelle und materielle Rüstung nicht begonnen werden.« Der Chef der Heeresabteilung im Allgemeinen Truppenamt, Joachim von Stülpnagel, hielt 1924 einen Vortrag zum Thema »Gedanken über den Krieg der Zukunft«. Er meinte, man dürfe nur ernsthaft an einen Krieg denken nach »Herstellung einer starken Reichsgewalt unter Ausschaltung der krankhaften parlamentarischen Zustände«.

Darüber hinaus schlummerten seit 1925 in den Safes der Reichswehrführung detaillierte Pläne mit dem Titel »WH 808« für Aufbau und Struktur eines aus acht Armeen und 102 Divisionen bestehenden Massenheeres von 2,8 bis drei Millionen Soldaten. Die Reichswehr hatte 42 Generäle, für das »große« Heer waren 252 vorgesehen. Genauso viele Etatstellen für Generäle wies das Feldheer 1939 auf. Die Pläne wurden also unmittelbar vor der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges ziemlich genau umgesetzt. Die 1925 angedachte »Kriegsstärke« war 14 Jahre später erreicht. Unter dem Druck der Militärs war auch mit dem Bau neuer Kriegsschiffe begonnen worden. Am lautesten wurde im Offizierskorps der Marine, die mit Schwarz-Weiß-Rot und »Kaiserhoch« antirepublikanische Haltung demonstrierte, immer wieder gefordert, Deutschland müsse zu Lande bald so stark sein, dass es über See neuen Lebensraum erobern könne. Marine und Heer müssten das Tor zur Welt aufstoßen, weil Deutschland in der »muffigen Enge von Europa nur vegetieren«, aber nicht leben könne. Die großen Entscheidungen »im Range von Weltvölkern« würden im wesentlichen auf den Weiten des Ozeans vorbereitet.

Vieles ließe sich schlicht fortsetzen bis hin zu jenem Artikel im Völkischen Beobachter vom 20. April 1939, in dem Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, schrieb: »Was im Weltkriege sich angebahnt hatte, ist heute ausgereift: Wir befinden mit dem Begriff des ›totalen Krieges‹ die Erkenntnis, dass der große Krieg der Zukunft – sollte er einmal unvermeidbar werden – Kampf um Sein oder Nichtsein werden muss; denn es wird um nicht weniger gehen als um den Bestand der Nation schlechthin.«

Eine Mahnung

Gestattet sei hier ein zusätzliches Wort: Das Ende des Krieges von 1914/18 hatte keine Gewähr geboten für ein tatsächliches Ende von Kriegswilligkeit und Vorbereitung neuer Kriege. Das Kriegsende von 1945 wie auch das Ende des sogenannten Kalten Krieges boten offensichtlich ebenfalls kein Aus für materielles und psychologisches Aufrüsten. Diesen Nachkriegszeiten folgte unsere jetzige Vorkriegszeit, in der Militärs, Politiker und Intellektuelle erneut den Einsatz von Atomwaffen für möglich halten, künstliche Intelligenz zu nutzen bereit sind und Grundlagen für eine neurologische Kriegführung schaffen.

Die Warnung der KPD aus dem Jahr 1932, wer Hitler wählen würde, wähle den Krieg, hatte sich als völlig berechtigt erwiesen. Sie appellierte an die Deutschen, ihrer persönlichen Verantwortung gerecht zu werden. Jede Erinnerung an den 1. September 1939 mahnt und zwingt, im Sinne solcher Voraussagen zu denken und zu handeln.

Anmerkungen:

1 Dass dies als nützlich für die Kriegsvorbereitung betrachtet und demagogisch betrieben worden ist, kann zahlreichen geschichtswissenschaftlichen Analysen entnommen werden, zum Beispiel dem von Reinhard Kühnl und Karin Schönwälder herausgegebenen Band »Sie reden vom Frieden und rüsten zum Krieg« (Köln 1986) oder Kurt Pätzolds Monographie »Gefolgschaft hinterm Hakenkreuz« (Berlin 2017).

Manfred Weißbecker ist Historiker. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 29. April 2024 über Gerd Krumeichs Buch »Als Hitler den Ersten Weltkrieg gewann. Die Nazis und die Deutschen 1921–1940«: Kein Hitler ohne Versailles?

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