Gegründet 1947 Mittwoch, 6. November 2024, Nr. 259
Die junge Welt wird von 2974 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 02.09.2024, Seite 8 / Inland
Militarisierung

»Es ist ein Märchen, dass die Bundeswehr demokratisch ist«

Die Bundeswehr hat nach Kritik die Neuregelungen zum Traditionserlass zurückgenommen. Ein Gespräch mit Ulrich Sander
Interview: Henning von Stoltzenberg
Mittenwalder_Gebirgs_18072864.jpg
Beim Pfingsttreffen der Gebirgsjäger versammelten sich bis in die 2000er Jahre Wehrmachtsveteranen und Bundeswehr-Soldaten (Mittenwald, 27.5.2006)

Das Verteidigungsministerium hat eine Neuregelung zum Umgang der Bundeswehr mit dem historischen Erbe der Wehrmacht zurückgenommen. Was besagte denn diese Neuregelung?

Man schwor die Truppe und Öffentlichkeit auf »Kriegstüchtigkeit« ein und ließ mit »erläuternden Hinweisen« zum Traditionserlass klarstellen, dass die Beteiligung an Völkermord und Vernichtungskrieg kein Hindernis sein muss, als kriegerisches Vorbild für die Bundeswehr zu dienen.

Wie lautete die darauffolgende Kritik an der Neuregelung und von wem kam sie?

Sie kam von kritischen Beobachtern und auch aus der Bundeswehr selbst. Somit nahm die zuständige Abteilung Formulierungen wie diese zurück: Dass die »rund 40.000 von der Wehrmacht übernommenen ehemaligen Soldaten« für ihre Rolle beim Aufbau der Bundeswehr gewürdigt werden. Schließlich hätten sie »sich zu großen Teilen im Gefecht bewährt« und über wichtige »Kriegserfahrungen« verfügt. Das war zu entlarvend.

Welchen Zweck erfüllt der vom Ministerium herausgegebene Traditionserlass aus Ihrer Sicht?

Die ausdrückliche Verneinung der Vorbildrolle der Wehrmacht wird aufgegeben. Was tatsächlich nun gilt, wird offenbar verschwiegen. Wir kommen der AfD-Position zur Änderung der Erinnerungskultur näher.

Für wie glaubwürdig halten Sie die Bekenntnisse, dass die Bundeswehr eine demokratische Institution sei?

Dass die Bundeswehr eine demokratische Parlamentsarmee ist, dass es ein Primat der Politik vor dem Militär gibt, ist ein Märchen. In zu vielen Fragen wird der Bundestag nicht eingeschaltet. Schon längst wirkt ein heimlicher, übrigens in Potsdam 1945 verbotener, deutscher Generalstab, in dem offenbar AfD-Militärs wie General Joachim Wundrak Einfluss haben. So wirken die Reden des Kanzlers und Ministers genaugenommen wie das Echo aus Reden der höchsten Generäle. Man beachte nur den Vortrag des Heeresinspekteurs Alfons Mais vor dem »Förderkreis Deutsches Heer« aus dem Jahr 2020.

Wie passten Veranstaltungen wie das alljährlich zu Pfingsten in Mittenwald stattfindende Traditionstreffen der Gebirgsjägerkameradschaft von Wehrmachtsveteranen und Bundeswehr-Aktiven zu den bisher gültigen Traditionserlassen?

Sie standen im Widerspruch dazu. Ich verweise auf das Resultat der Enthüllungsaktionen gegen die Traditionsverbände der Gebirgsjäger in Mittenwald. Ermittelt wurden fast 120 ehemalige Wehrmachtssoldaten, die an Kriegsverbrechen teilgenommen hatten und später in der Bundeswehr dienten. Sie gehörten zu den schätzungsweise insgesamt 1.000 Kriegsverbrechern der Wehrmacht, gegen die strafrechtlich ermittelt wurde, und die infolge des Schutzes der Bundeswehr dennoch straffrei blieben. Die VVN-BdA und der Arbeitskreis »Angreifbare Traditionspflege« glichen die Ermittlungsakten des Bundesarchivs mit den aktuellen Veröffentlichungen des Kameradenkreises der Gebirgstruppe ab und konnten zahlreiche Strafanzeigen erstatten.

Und konnte der VVN-BdA damit etwas erreichen?

Die Strafanzeigen gegen die Verbrecher aus der Wehrmacht sind überholt. Wo wir erfolgreich waren, kam der Tod dem Haftantritt zuvor. Wir müssen alle zusammen aber dafür sorgen, dass die seit über 150 Jahren gepflegten militaristischen Einflüsse und Usancen beseitigt oder künftig verhindert werden, als da sind: Bundeswehr-Offiziere als Werber für »Kriegstüchtigkeit« in Schulen und Hochschulen, Militarisierung der Forschung, Propaganda unter der Losung »Kanonen statt Butter«. Seit Jahren fahren Uniformträger kostenlos mit den Verkehrsmitteln, es werden Heldengedenken per Veteranentage propagiert, in Schwimmbädern Werbetransparente »Deine Marine« aufgehängt. Schluss damit.

Auch die Wehrpflicht soll wieder eingeführt werden.

Sie war nie weg, nur ausgesetzt. Wer unter 60 Jahre ist und gemustert wurde, kann zur Reserve einberufen werden. Reservistenverbände werden ausgebaut, sie können im In- wie Ausland eingesetzt werden. In allen Städten gibt es in den Rathäusern Kommandos der zivil-militärischen Zusammenarbeit, um schnell in der Lage zu sein, die Truppe weiter aufzustocken. Wir müssen endlich hinschauen, was da passiert.

Ulrich Sander ist Mitglied im Bundesausschuss der VVN-BdA

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

  • Leserbrief von Doris Prato (2. September 2024 um 14:47 Uhr)
    Ulrich Sander legt zutreffend dar, dass die Neuregelungen zum Traditionserlass nichts daran ändern, dass die Gründerväter der Bundeswehr Generäle Hitlers waren. Den Grundstein für Geist und Praxis dieser Armee, deren Aufstellung schon kurz nach der Gründung der Bundesrepublik eingeleitet wurde, legte u. a. Hitlergeneral Hasso von Manteuffel, der im November 1949 Bundeskanzler Konrad Adenauer eine Studie zur Aufstellung einer Armee aus kriegserfahrenen ehemaligen Wehrmachtssoldaten übergab. Im August 1950 übernahm der frühere General der Panzertruppen, Gerhard Graf von Schwerin, die zentrale Planung. Zwei Monate später beauftragte Adenauer seinen Parteifreund, Wehrmachts-Oberstleutnant Theodor Blank, das nach ihm benannte Amt zur Leitung des Aufbaus einer neuen Wehrmacht zu bilden. Im Juni 1955 – sieben Monate vor den entsprechenden Maßnahmen in der DDR – wurde es zum Verteidigungsministerium umbenannt. Im Bundestag gab Blank die geplante Stärke der Streitkräfte mit 370.000 Mann Heer, 70.000 Mann Luftwaffe, 24.000 Mann Marine und 40.000 Mann Territorialarmee bekannt. Es wurden weitere 44 ausgewählte Wehrmachtsgeneräle eingestellt, vorwiegend Generalstabsoffiziere, kommandierende Generäle oder Divisionskommandeure, die bis 1945 zur jüngeren Wehrmachtselite gehört hatten. Adolf Heusinger und Hans Speidel wurden zu Generalleutnanten ernannt.
    Zur Charakterisierung, wes Geistes Kind die Gründerväter waren, hier einige Fakten über die reaktionäre Karriere, die ihr erster Generalinspekteur, Adolf Heusinger, schon in der kaiserlichen Armee im Ersten Weltkrieg begann, in den er als Kriegsfreiwilliger zog. Ein halbes Jahrhundert lang diente er erschreckend erfolgreich vier Regimen des deutschen Imperialismus. Als Hitler nach seinem Machtantritt 1933 aus der Reichswehr der Weimarer Republik 1935 die Wehrmacht bildete, war Heusinger bereits seit 1930 Generalstabsoffizier in der Operationsabteilung des Truppenamtes (das war die Tarnbezeichnung für den durch den Versailler Vertrag noch immer verbotenen deutschen Generalstab). Mit diesen Erfahrungen stieg er am 15. Oktober 1940 zum Chef der Operationsabteilung des Generalstabes im Oberkommando des Heeres (OKH) auf, die die strategische und operative Führung der Heeresverbände plante. Von seiner maßgeblichen Rolle bei der Planung und Verwirklichung des Überfalls auf die UdSSR zeugte u. a. seine Teilnahme an der Lagebesprechung Hitlers im Führerhauptquartier Rastenburg/Ostpreußen im Oktober 1941 zusammen mit dem Chef des OKW (Oberkommando der Wehrmacht), Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, dem Chef des Generalstabes des Heeres, Generaloberst Franz Halder, dem Oberbefehlshaber des Heeres, Walther von Brauchitsch. Der erste Generalinspekteur der Bundeswehr ist zu Unrecht dem Strick entkommen.
    Obwohl schon 1982 ein Traditionserlass festlegte »ein Unrechtsregime, wie das Dritte Reich, kann Tradition nicht begründen«, und die Bezüge auf Hitlers Armee zurückwies, dominierte der braune Geist weiterhin die Bundeswehr. Davon zeugt nicht nur, dass das »schwarze Kreuz« der Hitlerwehrmacht leicht verändert weiterhin ihr Hoheitszeichen ist, sondern auch, dass sich u. a. noch 2010 ein vom Heeresamt der deutschen Streitkräfte herausgegebenes Handbuch mit »Hilfen für den Gefechtsdienst« fast ausschließlich auf Operationen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg berief. Angeführt wurde u. a. SS-Obersturmbannführer Paul Karl Schmidt (Paul Carell), bis 1945 Pressechef im Auswärtigen Amt Ribbentrops. Das »Militärgeschichtliche Forschungsamt« der Bundeswehr bezog sich in einem »Wegweiser« für die deutschen Besatzungstruppen in Afghanistan positiv auf Hitlermilitärs. Über den glühenden Antisemiten Oskar Ritter von Niedermayer hieß es, er repräsentiere die »guten deutsch-afghanischen Beziehungen«, während und nach dem Zweiten Weltkrieg.
    • Leserbrief von Wieland König aus Neustadt in Holstein (3. September 2024 um 14:25 Uhr)
      Herzlichen Dank für diesen Leserbrief. Ein äußerst interessanter Beitrag mit vielen lesenswerten Informationen. Solche Beiträge sind im Kommentarteil sehr wertvoll und ergänzent, wesentlich mehr als manche Plagiate von täglichen Vielschreibern.
  • Leserbrief von B.S. aus Ammerland (2. September 2024 um 13:34 Uhr)
    Die Bundeswehr ist im Geiste der Wehrmacht gegründet und ausgebildet worden. Heusinger und Co. sind alles aktive Nazigeneräle gewesen und haben in ihrem Geist die Bundeswehr erzogen. Bis vor Corona fielen bei der Bundeswehr und Polizei rechtsradikale Umtriebe zuhauf auf. Damals wurde von der Presse bzw. den Medien noch darüber berichtet, was heute nach dem Beginn des Ukraine-Krieges fast komplett unter den Tisch gekehrt wird. Bloß keine Meldungen über das Grölen von Naziliedern und zeigen des Hitlergrußes durch Soldaten und Polizisten. Gesinnungs-Nancy wollte damals, wie ihre kläglich gescheitert Verteidigungsministerin Lambrecht, diesem rechten Spuk ein Ende setzen. Aber dazu kam es nicht mehr, der »böse Russe« steht mal wieder vor der Tür. Na ja, vor der Tür ist stark übertrieben, denn wer zwei Jahre für wenige Kilometer eroberten Gebietes braucht, hat noch 15 Jahre vor sich, um an den Rhein zu gelangen. Aber dieses Ammenmärchen braucht der Verteidigungsminister »Blattschuss« Boris Pistorius, um seine Kriegspläne gegen Russland zu verwirklichen. Mit dabei die gesamte »Bundeswehrführung«, erzogen im Geiste der Wehrmacht! Zwei verlorene Weltkriege und ein Völkermord reichen also noch nicht, um wieder Krieg zu spielen, auch atomar. Dass Bundeswehr und Polizei seit Jahren kontinuierlich von Rechten und Neonazis unterwandert werden, interessiert weder unsere Nancy noch unseren Boris. Hauptsache gegen Kritik und Pazifismus, den können solche Leute gar nicht gebrauchen!

Ähnliche:

  • Schlagkraft und Verlässlichkeit unter Beweis stellen. So wollte ...
    14.08.2024

    Endlich wieder siegen

    Vor 60 Jahren erwog eine Studiengruppe der Bundeswehr die militärische Beteiligung am Vietnamkrieg. Die USA hätten das begrüßt
  • Auf großer Fahrt. Der Marineoffizier Rolf Johannesson feierte da...
    01.09.2023

    Selbstreinigender Saubermann

    Machte sich nachträglich zum Gegner des Naziregimes, war aber keiner. Der Marineoffizier Rolf Johannesson, der in der Bundesmarine als traditionswürdig gilt

                                          Heute 8 Seiten extra – Beilage zum Thema: Recht auf Wohnen