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Aus: Ausgabe vom 02.09.2024, Seite 10 / Feuilleton
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Die letzten Seelen

Am Dienstag findet das Konzert zur Feier der Veröffentlichung der DVD »Das Floß der Verdammten« in der jW-Maigalerie statt
Von Gisela Sonnenburg
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Théodore Géricault, »Le Radeau de La Méduse«, Öl auf Leinwand (1819)

Als der Ballettänzer Rudolf Nurejew 1961 erstmals nach Paris kam, besuchte er den Louvre, um sich ein ganz bestimmtes Gemälde anzusehen: »Das Floß der Medusa« von Théodore Géricault. Es zeigt eine Gruppe von Menschen in höchster Not, auf hoher See, auf einem Floß. Ein dunkelhäutiger junger Mann, den der Betrachter von hinten sieht, hält ein rotes Tuch hoch, wie eine Flagge, mit einem Stück Schiffsholz als Mast. Hinter ihm ringen Menschen nach Luft, recken die Arme hoch oder resignieren. Andere Männer im Bild – es gibt hier keine Frauen mehr – können sich kaum noch aufrecht halten. Noch andere sind bereits tot. Und hinter dem Floß türmen sich Wellen, die alles zu verschlingen drohen. »Das Floß der Verdammten« heißt darum die nach Hans Werner Henzes Vorbild entstandene Komposition von Hannes Zerbe, dem Berliner Großmeister des Jazz. Am Dienstag abend wird in der Maigalerie der jungen Welt die DVD von dem Mitschnitt der Uraufführung des Werks im Jahr 2019 mit einem neuerlichen Konzert vorgestellt: »Das Floß der Verdammten« wird live aufgeführt. Hannes Zerbe, der Schauspieler Rolf Becker sowie die Musiker Jürgen Kupke, Gebhard Ullmann und Christian Marien sind bei der Aufführung dabei. Die Reihe »jW geht Jazz« bildet für diesen außergewöhnlichen Abend den Rahmen.

Die Schönheit und die Grausamkeit der Natur, aber auch all jener Menschen, die Schwächere und die Unterschichten im Stich lassen, wird in der dramatischen Musik von Hannes Zerbe und im sie begleitenden Text zu bestaunen sein. Der so versierte wie leidenschaftliche Sprecher Rolf Becker proklamiert das Libretto, um die Geschehnisse zu präzisieren. Die Vorlage dafür stammt von Ernst Schnabel, der sein Wortkunstwerk für den Komponisten Henze verfasste. Henze wiederum, der heute als einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts gilt, war Kommunist und homosexuell. Er stand mit dem bundesdeutschen Staat der 60er Jahre zwar nicht völlig auf dem Kriegsfuß, wanderte aber, nicht ohne seine Gründe zu haben, später nach Italien aus.

»Das Floß der Medusa« nannte Henze nach dem Gemälde von Géricault sein mit schwierigen Chorgesängen brillierendes Oratorium. Er widmete es Che Guevara. Die geplante Uraufführung am 9. Dezember 1968 in Hamburg geriet allerdings zum Desaster: aus politischen Gründen. Proteste, Tumulte und ein Polizeieinsatz verhinderten die Aufführung. Im Radio wurde statt einer Liveschalte die Sendung der Generalprobe eingerichtet.

Der Tragödie mit dem Floß liegt ein historisches Ereignis zugrunde. Die Fregatte »La Méduse« (»Die Medusa«), symbolträchtig nach der Schreckensgestalt aus der antiken Mythologie benannt, segelte im Juni 1816 von Frankreich aus Richtung Senegal. Rund 400 Menschen waren an Bord. Doch relativ nah an der afrikanischen Küste lief »La Méduse« auf der Arguin-Sandbank auf und saß fest: Schiffbruch total.

Die Reichen, die Aristokraten und diejenigen, die gute Beziehungen hatten, retteten sich in die Beiboote. Etwa 150 Menschen blieben übrig. Für sie wurde aus den Masten der »Méduse« ein acht mal fünfzehn Meter großes Floß gebaut, das von den Beibooten gezogen werden sollte. Da man aber ohne das schwere besetzte Floß schneller und sicherer war, kappte eine Axt des Adels die Seile.

Für den Tod begann eine gute Zeit. Eindringlich schildert Zerbes Musik den Überlebenswillen und das langsame Verrecken der hilflos auf dem Meer Treibenden. Dreizehn Tage und Nächte des Horrors waren es: Nahrung und Trinkwasser reichten bei weitem nicht. Es kam zu Kannibalismus, und sobald eine Welle das Floß flutete, wurden Menschen in Panik totgetrampelt. Die letzten Seelen holten sich Krankheiten und der Durst. Jean-Charles, der Mulatte mit dem roten Tuch, ist in der Version von Zerbe der letzte Überlebende. Aber auch er stirbt, liegt schon im tödlichen Koma, als er im Juli 1816 gefunden wird (historisch gab es 15 Überlebende, von denen fünf an den Folgen der Strapazen starben).

Damals führte die menschengemachte Tragödie auf dem Floß der »Méduse« in Frankreich zum Skandal. Der zuständige Minister und 200 Marineoffiziere wurden entlassen. Als Théodore Géricault drei Jahre später sein Gemälde schuf, war die Sache aber schon fast wieder vergessen. Erst Géricault und seine Bildmacht sorgten dafür, dass die allegorische Bedeutung des Floßes blieb. Künstler wie Schnabel, Henze, Zerbe und Becker knüpfen daran an.

»jW geht Jazz«: Vorstellung – »Das Floß der Verdammten«. Mit: Rolf Becker, Jürgen Kupke, Gebhard Ullmann, Hannes Zerbe, Christian Marien, Dienstag, 3. September, Maigalerie der jungen Welt, Beginn: 19.30 Uhr, Einlass ab 18.30 Uhr, Eintritt: 10 Euro (ermäßigt: 5 Euro). Um Anmeldung wird gebeten: 0 30/53 63 55-54 oder maigalerie@jungewelt.de

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