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Aus: Ausgabe vom 02.09.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Debatte über die ökologische Krise

Auf wackligen Beinen

Mit Degrowth-Kommunismus gegen die Klimakrise: Kohei Saito sucht in seinem Buch »Systemsturz« nach einem Ausweg
Von Dean Wetzel
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Theorie und Praxis: Feuer auf einer Zuckerrohrplantage in Brasilien (24.8.2024)

Wenn gesellschaftliche Diskurse den politischen Handlungswillen widerspiegeln würden, müsste die Klimakrise längst passé sein. Seit den 1980er Jahren ist die Brisanz des Themas bekannt und die mediale Aufmerksamkeit, mit Zunahme der klimabedingten Katastrophen und der Klimaproteste, steigend. Politisch regt sich jedoch wenig bis nichts. Selbst die viel zu gering angesetzten »Ziele für nachhaltige Entwicklung« werden nicht eingehalten, und auch wenn sie es würden, der Klimawandel ließe sich so nicht stoppen.

Der marxistische Philosoph Kohei Saito prangert in seinem Buch »Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus« das inkonsequente und gefährliche Vorgehen der Industrienationen als einen ökologischen Ablasshandel an. Durch Maßnahmen, die mehr nach Maßnahmen aussehen sollen, als wirkliche Maßnahmen zu sein, soll die imperiale Lebensweise aufrechterhalten werden. Auch der derzeit vielbeschworene »Green New Deal« – eine Form des Klima-Keynesianismus – arbeitet im Endeffekt nur an einem besseren Kapitalismus, den es in Zukunft dann auch in nachhaltig geben soll. Für Saito steht daher fest, dass es einen ökologischen Antiimperialismus braucht, der konsequent mit der Logik der Externalisierung und des Extraktivismus bricht. Und das besser heute als morgen.

Seine Schlussfolgerung begründet er durch eine, wie er mehrmals betont, neue Marx-Interpretation. Saito ist während der Arbeit an der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) in den Exzerptheften des späten Marx auf Forschungsnotizen gestoßen, die bisher gänzlich ignoriert wurden. Für ihn steht aber fest, dass diese Notizen das Marxsche Werk in einem gänzlich neuen Licht erscheinen lassen. Marx soll sich nicht nur vom »Produktivismus« und »Eurozentrismus« des »Kommunistischen Manifests« hin zum Ökosozialismus entwickelt haben, sondern ist selbst, wie Saito vehement behauptet, über diesen Standpunkt hinausgeschritten und wurde zum ersten »Degrowth-Kommunisten«.

Der Degrowth-Kommunismus steht für eine Neuausrichtung von Wirtschaft, Politik und Umwelt auf Gleichheit und Nachhaltigkeit und stellt für Saito die bestimmte Negation des Kapitalismus dar. Die herrschende Tauschwertwirtschaft soll durch eine Gebrauchswertwirtschaft ersetzt werden, der Mangel, den der Kapitalismus unumgänglich hervorbringt, durch den radikalen Überfluss der Commons bekämpft und durch eine entschleunigte Wirtschaft der Handlungsspielraum der Menschen erweitert werden. So soll es möglich sein, den menschengemachten Riss im Stoffwechsel wieder zu flicken.

Dass Saito mit seiner Marx-Rekonstruktion eine kreative, aber eben auch recht einseitige Interpretation vorlegt, die Marxens Analyse so zurechtrückt, wie er es gerade braucht, ist argumentativ allerdings schon fast als unredlich zu bezeichnen. Die rhetorische Konstruktion, mit der Saito seine eigene Argumentation aufbaut, wird zumindest bei seinen marxistisch geschulten Lesern auf Skepsis stoßen und sich vermutlich nicht als besonders nachhaltig erweisen.

Wenn Saito nach knapp 150 Seiten an der »Kritik des Gothaer Programms« seine Interpretation belegen will, entblößt sich deren mangelnde Notwendigkeit. In der Formulierung des »genossenschaftlichen Reichtums« will er nicht, wie es bei Marx der Fall wäre, die genossenschaftliche Produktion verstanden wissen, sondern sieht darin einen indirekten Verweis auf die germanischen Markgenossenschaften und damit einen Beleg für seinen Wandel zum Degrowth-Kommunismus. Denn wie Saito aus den Exzerptheften weiß, beschäftigte sich Marx zur Zeit der Abfassung der »Kritik« genau mit diesen Markgenossenschaften. Eine Interpretation, der man, wie er dann doch selbst eingesteht, nicht unbedingt folgen muss, die er aber für sehr wahrscheinlich hält.

Um sein Verständnis vom späten Marx als Degrowth-Kommunisten zu untermauern, zieht er den bekannten Brief, den Marx an die russische Revolutionärin Sassulitsch schrieb, hinzu. Marx verfasste vor dem eigentlichen Brief drei umfangreiche Entwürfe. In diesen setzt er sich ausgiebig mit der Situation Russlands auseinander und gesteht Sassulitsch zu, dass die russische Tradition der Ackerbaugemeinschaften einen möglichen Übergang in den Kommunismus darstellen könnte. Eine Einsicht, die ihn, wie Saito meint, zu einer Revision seines Geschichtsbilds zwingt.

Dass Saito den historischen Materialismus jedoch konsequent aus seiner Rezeptionsgeschichte versteht und diese auf Marx zurückprojiziert, sei hier nur am Rande erwähnt. Doch selbst wenn man seiner Argumentation folgt, werden die Konsequenzen, die er zieht, der Drastik der von ihm beschriebenen Situation nicht gerecht. Man möchte Saito keinen Voluntarismus unterstellen, doch bleibt er seinen Lesern eine Erklärung schuldig, wie aus dem Willen zur Selbstbegrenzung, aus Bürgerräten und Produktionsgenossenschaften ein zukünftiger Degrowth-Kommunismus gegen die Vertreter des Kapitals durchgesetzt werden soll. Und auch wenn sein Fokus auf die Produktionssphäre und den globalen Süden – in dem er den entscheiden Hebel zur Revolution sieht – positiv herauszustellen ist, werden die kapitalistischen Industriestaaten dem von Saito prognostizierten gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel nicht tatenlos zusehen. Die Militarisierung der Polizei und die massive Aufrüstung des Militärs sprechen da Bände.

Saitos Buch ist in sich selbst als ein Dialogversuch entworfen und möchte diesen Versuch auch über seine Buchdeckel hinaus fortgesetzt wissen. Ein Dialog, der die imperialistische Lebensweise radikal in Frage stellt und Befürworter einer Degrowth-Bewegung mit Sozialisten und Kommunisten zusammenbringen möchte. Auch wenn seine Marx-Interpretation auf wackligen Beinen steht, wäre eine breite Kritik des Ökoimperialismus zu wünschen. Saitos Thesen könnten dabei eine über die eigenen Diskursgrenzen hinausweisende Gesprächsgrundlage bieten. Damit in Zukunft nicht nur über den Untergang der Welt diskutiert wird, sondern in der Gegenwart die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden.

Kohei Saito: Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. Dtv, München 2023, 320 Seiten, 25 Euro

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