Mehrheiten beschaffen
Von Nico PoppDie Resultate der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen haben zwei unmittelbare Debatten angestoßen. Da ist die Frage einer Regierungsbildung in den beiden Ländern, die die AfD, die jeweils über 30 Prozent der Stimmen erhalten hat, außen vor lässt. Und es zeichnet sich eine Diskussion über die Zukunft einer Bundesregierung ab, die aus drei Parteien besteht, die zusammen in Thüringen noch auf zehn und in Sachsen auf 13 Prozent der Stimmen gekommen sind – wobei die FDP, die Partei des Bundesfinanzministers, der auch ihr Vorsitzender ist, in Sachsen mit 0,9 und in Thüringen mit 1,1 Prozent der Stimmen geradezu pulverisiert wurde.
Eine Regierungsbildung ist angesichts der parlamentarischen Stärke der AfD und erheblicher Differenzen zwischen den anderen Parteien schwierig. In Thüringen müssten alle vier Parteien, die neben der AfD im neuen Landtag vertreten sind – CDU, BSW, SPD, Linkspartei –, eine Regierungsmehrheit bilden. In Sachsen hat die bisherige Regierung aus CDU, SPD und Grünen keine Mehrheit mehr; das Bündnis müsste also entweder durch Einbeziehung der noch sechs Abgeordneten der Linkspartei oder der 15 Abgeordneten des BSW erweitert werden. Auch CDU, SPD und BSW hätten mit zusammen 66 Abgeordneten eine Mehrheit in dem Landtag mit 120 Sitzen.
Es ist durchaus offen, ob solche Kombinationen zustande kommen. Die Beschlusslage in der CDU schließt weiterhin eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei aus. Die BSW-Spitze wiederum hat inzwischen mehrmals bekräftigt, dass für sie eine Regierungsbeteiligung nur dann in Betracht kommt, wenn sich diese Regierung auf eine Ablehnung der geplanten Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland und auf die Forderung nach diplomatischen Initiativen im Ukraine-Krieg nicht nur verständigt, sondern bundespolitisch in diesem Sinne aktiv wird. Dass sich CDU und SPD auf so etwas einlassen, ist nahezu ausgeschlossen. Umgekehrt kann es sich das BSW nicht leisten, hier einzuknicken.
In der Union geben sich vor allem Funktionäre aus dem alten Bundesgebiet zurückhaltend. CSU-Chef Markus Söder gab am Montag zu Protokoll, er habe hinsichtlich einer Koalition mit dem BSW ein »komisches Gefühl«. Der rheinland-pfälzische CDU-Chef Christian Baldauf erklärte, die Position des BSW zum Ukraine-Krieg sei ein »K.-o.-Kriterium«. CDU und BSW hätten »vollkommen konträre Positionen«; er sehe »derzeit keinerlei Möglichkeit für inhaltliche Kompromisse«. CDU-Chef Friedrich Merz nannte das BSW am Montag »eine Art Blackbox oder Redbox«. Da müsse »man halt mal reinschauen, und das müssen dann die Kollegen in Thüringen und in Sachsen beantworten«. Mit Blick auf den Unvereinbarkeitsbeschluss mit der Linkspartei betonte Merz: »Der Beschluss gilt. Und damit umzugehen wird dann auch Sache der beiden Landesverbände in Sachsen und in Thüringen sein.«
Wie so ein »Umgang« aussehen könnte, deutete am Montag der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer an. Obwohl der Unvereinbarkeitsbeschluss von 2018 nicht nur Koalitionen, sondern auch »ähnliche Formen der Zusammenarbeit« ausschließt, vertrat Kretschmer die Auffassung, dass das nur für »eine Regierungsbeteiligung« bzw. eine »strukturelle Zusammenarbeit« gelte. Wichtig werden wird also, inwiefern die Zusammenarbeit einer Regierungsmehrheit in Dresden und Erfurt formalisiert wird.
Vorstellbar ist, dass vor allem von der CDU zielstrebig darauf hingearbeitet wird, dass sie allein (bzw. mit der SPD und in Sachsen den Grünen) Minderheitsregierungen bildet, die dann von BSW und/oder Linkspartei toleriert werden. Diese Lösung hätte allerdings vor allem für das BSW den Nachteil, dass es keinerlei realen Einfluss auf die Regierungsarbeit besäße und auch mit dem Thema Friedenspolitik vor der Tür sitzen bliebe – es wäre dann tatsächlich nur »Mehrheitsbeschaffer«. Und das ist eigentlich kein Modell für eine Partei, die ihre schnell gewonnene Stärke vor allem dem Umstand verdankt, dass sie als Oppositionspartei wahrgenommen wird.
Die Partei Die Linke gab sich nach ihrem desaströsen Abschneiden am Sonntag betont staatstragend. Der Thüringer Kovorsitzende Christian Schaft deutete an, dass für seine Partei die Tolerierung einer Regierung aus CDU, SPD und BSW vorstellbar sei. Der scheidende Ministerpräsident Bodo Ramelow unterstrich, persönlich »alles« dafür tun zu wollen, »dass es zu einer Mehrheitsregierung kommt«.
Hintergrund:Mehr Kreuzchen
Das Resultat der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen zeigt eine gewisse Repolitisierung an. Die beschränkt sich vorläufig zwar auf das Ankreuzen eines Stimmzettels, ist aber dadurch um so besser messbar. Während die Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen im Jahr 2014 auf 49,1 bzw. 52,7 Prozent abgesunken war, liegt sie zehn Jahre später wieder deutlich darüber. In Sachsen wurde am Sonntag mit 74,4 Prozent Wahlbeteiligung der bisherige Rekordwert (72,8 Prozent) von der ersten sächsischen Landtagswahl nach dem Ende der DDR (14. Oktober 1990) übertroffen. In Thüringen gingen 73,6 Prozent der Wahlberechtigten wählen – kaum weniger als bei der Landtagswahl 1994, als 74,8 Prozent ihr Kreuzchen gemacht hatten.
Hauptverlierer der Wahl in Thüringen ist die Partei Die Linke. Sie hat gegenüber 2019, als sie 343.780 (31 Prozent) Wählerstimmen erhalten hatte, mehr als die Hälfte der Stimmen eingebüßt: Nur noch 157.641 Wähler stimmten für die Partei – ein Stimmenanteil von 13,1 Prozent. Die Partei, die mit Bodo Ramelow seit 2014 den Ministerpräsidenten stellte, ist damit nur noch viertstärkste Kraft. Gewinner der Wahl sind AfD und BSW. Die AfD erhielt rund 396.000 Stimmen und gewann damit gegenüber 2019 noch einmal 9,4 Prozentpunkte hinzu. Annähernd genau jeder dritte Wähler hat im Landesdurchschnitt für die Partei gestimmt (32,8 Prozent). Sie ist damit erstmals bei einer Landtagswahl stärkste Kraft. Aus dem Stand auf rund 190.000 Stimmen und 15,8 Prozent Stimmenanteil kam das BSW. Die CDU gewann gegenüber 2019 etwas mehr als 40.000 Wähler hinzu und steigerte ihren Stimmenanteil leicht von 21,7 auf 23,6 Prozent. Alle anderen Parteien folgen weit abgeschlagen. Bündnis 90/Die Grünen und FDP fliegen aus dem Landtag. Die rechtskonservative Werteunion, die sich in Thüringen Chancen ausgerechnet hatte, kam mit 6.780 Stimmen lediglich auf 0,6 Prozent.
Das sächsische Ergebnis unterscheidet sich vom thüringischen vor allem dadurch, dass hier die AfD keine vergleichbaren Zugewinne verzeichnete. 3,1 Prozentpunkte konnte sie in Sachsen gegenüber dem Ergebnis von 2019 zulegen, schob sich damit aber ebenfalls über die 30-Prozent-Marke. In Sachsen hatte die AfD messbare Konkurrenz von rechts: Die Freien Sachsen holten 2,2 Prozent. Die CDU verteidigte mit 31,9 Prozent bei geringen Verlusten ihr Ergebnis von 2019. Dem BSW gelang auch in Sachsen beim ersten Anlauf der Sprung in die Zweistelligkeit (11,8 Prozent). Und wie in Thüringen verlor die Linkspartei mehr als die Hälfte ihrer Wähler von 2019, was in Sachsen zum Unterschreiten der Fünfprozentgrenze führte. Zwei in Leipzig geholte Direktmandate verhinderten das Ausscheiden aus dem Landtag. (np)
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Rainer Erich K. aus Potsdam (4. September 2024 um 07:56 Uhr)Die CDU war, ist und wird wohl ewig eine reaktionäre Altpartei bleiben, die noch immer nicht im 21. Jahrhundert angekommen ist. Die Bürger in Sachsen und Thüringen, die an diese Partei ihre Stimme verschwendet haben, plädierten damit für ein politisches weiter so. Sie hätten damit getrost auch eine der Ampel-Parteien wählen können. Die politischen Unterschiede zwischen Ampel und CDU sind marginal. Die Weigerung der CDU-Führung, Kompromisse zu finden, die den Wählerwillen respektieren, offenbart ein riesiges Defizit beim Demokratieverständnis. Das wiederum scheint niemanden zu stören.
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Leserbrief von Andreas Kubenka aus Berlin (3. September 2024 um 16:56 Uhr)Ich kann nur hoffen, dass die friedenspolitischen Bedingungen Wagenknechts an die CDU nur eine charmant formulierte Absage an Koalitionen mit dieser Partei sind. Selbst wenn die CDU-Landespolitiker aus Verzweiflung den zu erwartenden Ärger mit dem Rest der Partei und allen Kriegsfalken in Kauf nähmen, wären Länderäußerungen zu außenpolitischen Themen zwar wichtig, aber eben auch nur symbolisch. Außerdem hoffe ich, dass Wagenknecht auch noch ein paar prinzipielle innenpolitische Argumente einfallen, warum BSW gegenwärtig mit keiner der etablierten Parteien koalieren darf. Letztlich wäre sie damit wohl lediglich Mehrheitsbeschaffer für die Verwalter des Bestehenden. Das wäre Verrat an fast allen ihrer Wähler!
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