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Fegen (1)

Von Helmut Höge
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Mir erzählte Oi-Ok Shu, eine koreanische Krankenschwester, jetzt Rentnerin, die gelegentlich das buddhistische koreanische Kloster in der Oranienstraße besuchte, dass dort eine »Intensivmeditation« stattfand, bei der die Teilnehmer sich rund um die Uhr im Zentrum versammeln. Morgens gehen sie dann als erstes in den Görlitzer Park, um dort – »etwas Gutes zu tun, d. h. die Wege zu fegen – und damit gleichzeitig der eigenen Erleuchtung näherzukommen«. Denn wenn man diese nicht erreiche, dann werde einem – laut Frau Shu – »jeder Grashalm zur Falle«.

Fegen? dachte ich und begann sofort in Gedanken loszurattern. Mao: »Für alles Reaktionäre gilt, dass es nicht fällt, wenn man es nicht niederschlägt. Es ist die gleiche Regel wie beim Fegen: Wo der Besen nicht hinkommt, wird der Schmutz nicht von selbst verschwinden!«

Und dann die chinesische Kulturrevolution. Wie viele Intellektuelle und Kader hat es damals gegeben, die man zwecks Umerziehung zum Fegen, als Pförtner oder Hausmeister abkommandiert hatte? Die »Narbenliteratur« ist voll von Klagen über diese entehrende Tätigkeit, mit der die Betreffenden ihr falsches – reaktionäres – Bewusstsein ändern sollten.

Außerhalb Chinas wurde jedoch ebenfalls gefegt wie verrückt. Im Westen allerdings eher auf freiwilliger Basis, aber mit demselben Ziel: um von unten nach oben alles umzudrehen – die Kacke des Seins umzugraben. Ich erinnere mich noch, zum Beispiel das Georg-von-Rauch-Haus tagelang gefegt zu haben, ebenso den Republikanischen Club, die Alte TU-Mensa bis zum Erbrechen, das Audimax der TU einmal und auch die Diskothek »Dschungel« sowie mindestens zweimal Teile des zugefrorenen Wannsees, um eine schneefreie Fläche fürs Eishockeyspielen zu schaffen.

Auf dem Höhepunkt dieser ganzen Fegerei gab es nicht nur mehrere französische Filme, in denen Straßenfeger eine tragende Rolle spielten (»Themroc« zum Beispiel), sondern auch Joseph Beuys’ Fegeaktion in Neukölln, wo er hinter der Revolutionären 1.-Mai-Demonstration die Karl-Marx-Straße wieder besenrein machte. Sein damals dort zusammengefegter Dreck ist heute längst unbezahlbar.

Auf dem Höhepunkt meiner Fegeleidenschaft baute ich einmal bei einem Bauern einen ausrangierten Heuwender mit zwölf Piassavabesen zu einer Kehrmaschine um und konnte ihm fortan jeden Sonnabend den Hof mit seinem Trecker fegen. Dem Bauern gefiel die Konstruktion. Genau das Gegenteil passierte mir dann während der umgedrehten Kulturrevolution – Wende genannt – in der DDR, auf einer LPG. Dort fegte ich einmal einen Stallgang auf der Rindermast sehr langsam und gründlich, aber eigentlich nur, um mich weiter mit einem Kollegen zu unterhalten, der noch mit Füttern beschäftigt war. Irgendwann stand er hinter mir und sagte – in einem Ton, als würde ein Arbeiterverräter zurechtgewiesen: »Lass gut sein, wenn du es zu sauber machst, dann stecken sich die da oben das bloß wieder an den Hut!« Bei einer ähnlichen Gelegenheit meinte ein anderer Kollege, dafür sei die und die Brigade zuständig. Auf meinen Einwand, dass diese doch aufgelöst sei, entgegnete er: »Darüber müssen die da oben sich einen Kopp machen!«

Seitdem habe ich eigentlich nie mehr so richtig gefegt. Höchstens Staubsaugen. So wird es auch in China jetzt sein, dass man die Leute gegebenenfalls zum Staubsaugen verdonnert. Das Fegen war während der Kulturrevolution eine derart harte Umerziehungsmaßnahme, dass die Betreffenden meistens nachts aufstanden, um damit fertig zu sein, bevor die ersten Nachbarn wach wurden und sie auf der Gasse sahen – so sehr schämten sie sich. Daran sieht man, wie wichtig das Fegen ist.

Bei mir ist es noch immer so, dass ich – umgekehrt – mit niemandem liiert sein möchte, der seine Wohnung fegen (oder staubsaugen) lässt. So etwas gehört sich einfach nicht. Das macht man selber oder lässt den Dreck halt liegen!

In der »Wende« versprach Gregor Gysi, als er zum PDS-Vorsitzenden gewählt wurde, die Partei mit »hartem Besen auszukehren« – und einen solchen hielt er dann auch in die ARD-Kamera. Da war das Fegen aber längst zu einer Metapher geworden.

Im Sommerloch besuchen SPD-Vorständler gerne die Basis. Einer aus Hessen hatte einmal bei der Berliner Stadtreinigung gearbeitet und fragte einen alten Ostkollegen, ob sich die Tätigkeit bei der BSR von seiner früheren wesentlich unterscheide. Der Mann antwortete: »Eijentlich hat sich nüscht jeändert – außer det Gesellschaftssystem.«

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