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Aus: Ausgabe vom 03.09.2024, Seite 11 / Feuilleton
jW-Maigalerie

Anregende Fundstücke

»Flächennutzungsplan« – Skulpturen und Zeichnungen von Rolf Biebl in der jW-Maigalerie. Ein Porträt des Künstlers
Von Gisela Sonnenburg
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Gespannt: Rolf Biebl blickt auf sein Werk

In gewisser Weise ist er der Hauskünstler des Verlags 8. Mai, der unter anderem diese Zeitung herausbringt. Denn Rolf Biebl ist der Schöpfer der Statue von Rosa Luxemburg, die in Bronze auf der Terrasse hinter dem Verlagsgebäude in der Torstraße in Berlin-Mitte steht. Entscheidend ist nicht nur Luxemburgs entschlossenes, dennoch nachdenkliches Gesicht, sondern auch ihr Gang. Es ist dieser Eindruck von Bewegung der Luxemburg, die dieses Kunstwerk ausmacht. Sie, die bekanntlich hinkte, hat hier eine Stärke und Beweglichkeit im Gehen, auf die man mit Ehrfurcht blicken kann. Ehrfurcht, Mitleid, Schrecken – solche Gefühle lösen die Werke von Biebl oft aus. In der Maigalerie der jungen Welt zeigt er ab dem 5. September einen Monat lang Skulpturen, Gemälde, Zeichnungen und Graphiken unter dem neugierig machenden Titel »Flächennutzungsplan«.

»Flächennutzungsplan von Berlin« steht auf den bemalten Blättern, die »nackt«, also ohne Rahmen und Glasscheibe, an der Wand prangen. Da ist die Herkunft der Originaldokumente verzeichnet: »Senat für Bau- und Wohnungswesen«. Eine Jahreszahl gibt es auch: 1965. Die Papiere stammen aus jener Ära Westberlins, als Willy Brandt zum dritten Mal Regierender Bürgermeister war. Überraschenderweise zeigen sie auch den Osten der Stadt. Rolf Biebl fand die angegilbten Blätter in einer Altpapiertonne.

Zart gezeichnet ist die unbekleidete Frau, die sich nun in aller Ruhe über den Flächennutzungsplan bis Hennigsdorf und Falkenhagen ausbreitet. Ihr Körper ist teebraun getuscht. Den Kopf hält sie gesenkt, die Augen sind geschlossen, die Fingernägel rot lackiert. Sie betastet sich. In sich gekehrt, verschafft sie sich stille Lust. Und die Berliner Havel fließt durch sie hindurch.

Auf so eine Idee muss man erst einmal kommen. Für Biebl, der am 6. Dezember 1951 im sächsischen Klingenthal zur Welt kam, als junger Mann Deutscher Meister im Skilanglauf war und in den 80er Jahren mit der Skulptur »Vinetamann« am U-Bahnhof »Vinetastraße« in Berlin-Pankow berühmt wurde, ist Intuition wichtig. Und sein Handwerk als Künstler. Er sei »geprägt von den figürlichen Sachen«, das gibt er unumwunden zu.

Biebl hat an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee studiert. Zunächst allerdings Architektur, bis er merkte, dass er mit seinen Vorstellungen à la Corbusier in der DDR nicht allzu weit kommen würde. Er sattelte um auf Bildhauerei. Und entpuppte sich als großes Talent. Später hat er selbst in Weißensee gelehrt, hat Studenten geprägt und inspiriert (so auch unseren Fotografen, der das Gespräch mit Biebl festhielt).

Nach dem Studium, so Biebl, explodierte in ihm das Schöpferische. Aufenthalte im Westen führten keineswegs zu verstärkter Sehnsucht, dorthin zu gehen. Aber beide Welten zu kennen, tat ihm gut. Erweitert hatte er seinen Horizont schon als Meisterschüler in Budapest. Dort fand er – wieder waren es Fundstücke, die ihn anregten – in einem Antiquariat deutsche Ausgaben der Werke von Sigmund Freud. Dessen Aufteilung des psychischen Apparats in Ich, Es und Über-Ich beeindruckte Biebl, der durchaus als moralästhetischer Künstler zu bezeichnen ist. Trotzdem ist er kein Beschöniger, sondern zeigt, wo es kneift und drückt, wie sich Menschen verändern und verbiegen, um der Welt standzuhalten.

»Ohne Titel« nennt er eine überlebensgroße Statue, die einen aufrechtstehenden, abgemagerten Mann in einer offenkundig belastenden Situation zeigt. Die Unterarme sind hochgebeugt, die Hände umfassen unsichtbare Tragegurte. So viel Schicksal kann kein Rucksack fassen. Darum sieht man ihn nicht. Die benachbarte Figur, etwas kleiner, glänzt. Dieser Mann ist schmal, aber sein Kopf ist groß. Das Gesicht ist hochgereckt, gen Himmel, wie im Schmerz. Es hat Ähnlichkeit mit den Zügen des Künstlers, mit einer markanten Nase und schön geschwungenen Unterkiefern. Aber auch hier ist das Leben ein Kampf mit der Qual. Vielleicht auch mit sich selbst.

Die männlichen Figuren von Biebl weisen starke Deformationen und Verkantungen auf. Bei weiblichen Figuren attestiert er sich selbst eine »Beißhemmung«. Ihre Sanftmut will er betonen, während ihm bei den Männern oft das Destruktive, auch Selbstzerstörerische auffällt.

»Madonna« heißt das jüngste Werk in der Ausstellung. Das Gemälde zeigt eine blonde Frau, flankiert von zwei weiteren, die bunt maskiert sind: die Madonna selbdritt im Stehen, nackt, ohne Jesuskind. Das Trio hat das Flair von Karne­valistinnen oder Swingerclub-Schönheiten. Schamhaft-lüstern schaut diese Madonna drein, ihr Körper deutet tänzerische Bewegungen an. Doch am linken Bein wächst ihr ein Stück Holz. Oder sie selbst wächst gerade aus dem Holz heraus. Ist es eine verkleidete Daphne auf Abwegen?

Nur eines ist sicher: Rolf Biebl verleiht seine Seele an seine Geschöpfe. Da ist nichts kalt oder spekulativ, aus seinen Werken spricht Leidenschaft. Biebls Künstler-Ich nimmt einen an der Hand und mit hinaus in die Welt. Und das Ich, das Es und das Wir sind hier vereint.

Am 5. September findet ab 19 Uhr die Vernissage der Ausstellung »Flächennutzungsplan« von Rolf Biebl in der Maigalerie der jungen Welt, Torstr. 6, 10119 Berlin, statt. Der Kunsthistoriker und Zeichner Fritz A. Jacobi wird einen Vortrag halten. Anmeldung erbeten unter 0 30/53 63 55-54 oder maigalerie@jungewelt.de. Die Ausstellung ist bis zum 4. Oktober 2024 zu sehen. Der Eintritt ist frei.

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