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Aus: Ausgabe vom 03.09.2024, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Astrophysik

Unscheinbare Revolution

Neutrinos sind der Physik nach wie vor ein Rätsel. In der Galliumanomalie könnte seine Lösung liegen
Von Erik Rhea
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Antarktis: Blick auf das »IceCube«-Labor bei sternenklarem Nachthimmel, der die Milchstraße und grüne Polarlichter zeigt (26.6.2023)

Als der junge Max Planck 1874 das Abitur absolviert hatte, plagten ihn Schwierigkeiten. Sollte er seiner Leidenschaft für die Musik folgen oder sich auf die Naturwissenschaften konzentrieren? Man riet ihm vom Studium der Physik ab, die habe, hieß es, alle wesentlichen Fragen bereits geklärt, nurmehr Details seien noch auszuarbeiten. Die Frage etwa, warum glühender Stahl in anderen Farben leuchtet, als die bislang bekannten Gesetzmäßigkeiten nahelegen.

In diesem Detail allerdings steckte ein Teufel, der die gesamte Physik grundlegend umkrempelte. Ausgehend von Plancks Strahlungsgesetz aus dem Jahr 1900, das Licht von vor Hitze glühenden Körpern beschreibt, entwickelte sich die Quantentheorie und löste eine regelrechte Revolution aus. Seither schaut man genau auf zunächst abwegig oder unwichtig erscheinende Ungereimtheiten zwischen Messung und Vorhersage, denn die Beschäftigung mit ihnen könnte der Beginn einer weiteren physikalischen Revolution sein.

Eine dieser Ungereimtheiten, auf die die Forschungswelt aktuell blickt, ist die sogenannte Galliumanomalie. Gallium ist ein Metall, das zum Nachweis von Neutrinos verwendet wird. Neutrinos sind Teilchen, die entstehen, wenn Quantenteilchen sich ineinander umwandeln, etwa beim radioaktiven Betazerfall. Sie besitzen nahezu keine Masse, sind elektrisch neutral und wechselwirken fast gar nicht mit anderen Teilchen. Entsprechend schwierig ist ihr Nachweis. 1930 hat Wolfgang Pauli sie theoretisch vorhergesagt, da beim Betazerfall die Beobachtung gemacht wurde, dass die entstandenen Betateilchen in einem ganzen Spek­trum verschiedener Energien messbar sind, während nach der Quantentheorie nur Betateilchen mit genau einer bestimmten Energie entstehen dürften. Die Anomalie konnte dadurch erklärt werden, dass noch ein zweites Teilchen beim Zerfall entsteht, das eine Menge der freigesetzten Energie trägt und so Zerfälle mit verschiedenen Energieverteilungen ermöglicht. 1956 schließlich hat man Neutrinos erstmals experimentell nachgewiesen.

Da in jedem Stern und bei jedem radioaktiven Prozess und einer Vielzahl von kosmischen Vorgängen, wie zum Beispiel Explosionen von Sonnen, Neutrinos entstehen, haben Astrophysiker seit langem das Ziel, diese Teilchen zur Beobachtung kosmischer Vorgänge zu nutzen. Leider ist der Nachweis von Neutrinos bisher zu aufwendig und teuer, um dies im großen Stil zu betreiben, dennoch existiert zur Zeit eine Handvoll astronomisch genutzter Neutrinoobservatorien, wie das Icecube, das von einem internationalen Team am Südpol betrieben wird.

Eine Zeitlang sah man in Neutrinos einen Kandidaten für die dunkle Materie – eine auch heute noch nicht nachweisbare Materie im Kosmos, die durch ihre Gravitation dafür sorgt, dass die Galaxien, die wir sehen, ihre Formen annehmen und sich so bewegen, wie wir es beobachten. Bislang hat sich keine einheitliche Vorstellung eta­bliert, worum genau es sich bei dunkler Materie eigentlich handelt. Neutrinos sind indessen schlicht zu leicht, um die Rolle der dunklen Materie im Kosmos spielen zu können. Obwohl sie nur selten mit sonstiger Materie wechselwirken, gibt es bestimmte Stoffe, die bei Kollision mit einem Neutrino in radioaktiven Zerfall gebracht werden. Ein solcher Stoff ist eben Gallium: Die Kollision mit einem Neutrino kann einen Galliumkern zu einem radioaktiven Betazerfall anregen, so dass das Element sich in Germanium umwandelt.

Man kann prüfen, wieviel Germanium dabei entsteht, und erhält dann ein Maß dafür, wie viele Neutrinos durch die Galliumprobe geflogen sind. Die Anomalie liegt hier im Umstand, dass die durch diese Methode gemessene Anzahl an Neutrinos um ca. 20 Prozent niedriger ausfällt als erwartet. Nachdem man zunächst von Messfehlern oder nicht beachteten Störfaktoren im Labor ausgegangen war, zeigte sich bei mehrfacher internationaler Wiederholung des Experiments, dass die Galliumanomalie immer auftritt, jedoch ausschließlich bei Messungen mit Galliumdetektoren. Andere Diskrepanzen zwischen erwarteten und tatsächlich gemessenen Neutrinos konnten bisher durch die Umwandlung verschiedener Neutrinoarten ineinander erklärt werden. So wurden zum Beispiel auch die von der Sonne abgegebenen Neutrinos in viel geringerer Häufigkeit gemessen als vorhergesagt.

Zur weiteren Verfolgung der Frage baute man in einer alten Nickelmine in Kanada einen Neutrinodetektor (Sudbury Neutrino Observatory), der aus 1.000 Tonnen schweren Wassers bestand (D2O – Wasser, bei dem der Wasserstoff aus einem Deuterium genannten Isotop besteht, das ein zusätzliches Neutron enthält). Das schwere Wasser konnte durch eine bestimmte Neutrinoart zum Betazerfall angeregt werden und durch andere Neutrino­arten in ein Neutron-Proton-Paar aufgespalten werden. Dadurch war es möglich, verschiedene Arten von Neutrinos simultan zu messen, und es konnte experimentell gezeigt werden, dass die Sonnenanomalie durch die Umwandlung von Neutrinos ineinander erklärbar ist.

Das Verfahren führte nicht nur zu einem Nobelpreis, sondern seinerseits zu einer starken Anomalie – des Weltmarktpreises von schwerem Wasser nämlich. Würde man jedoch die Galliumanomalie auf diese Weise erklären wollen, müsste man neue Arten von Neutrinos postulieren. Und das machte eine starke Änderung unseres bisherigen Standardmodells für Elementarteilchen und aller damit verbundenen Theorien nötig. Die Physik müsste, mit einem Wort, einmal wieder gründlich umgekrempelt werden.

Zur Zeit versucht ein russisch-US-amerikanisches Team (Baksan Experiment on Sterile Transitions), die Galliumanomalie genauer zu erforschen, um systematische Fehler auszuschließen, die Eigenschaften potentieller unentdeckter Neutrinoarten einzugrenzen oder aber weitere völlig unerwartete Effekte hervorzurufen. Die bisherigen Erkenntnisse des Experiments schließen die Existenz neuartiger Neutrinos zumindest nicht aus. Es bleibt also spannend.

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