»Es gibt keinen idealen Zustand einer Revolution«
Interview: Yaro AllisatIm August 2023 waren Sie für das Dunya Collective mit einem Kollegen auf einer Recherchereise durch Nord- und Ostsyrien. Wie ist die Arbeit als ausländischer Journalist vor Ort?
Grundsätzlich kann ich da nur für mich sprechen. Die Region ist, anders als der Rest Syriens, für unabhängige Journalisten zugänglicher. Das Land befindet sich allerdings nach wie vor in einem Kriegs- und Ausnahmezustand. Deswegen wird hingeschaut, wer von A nach B will und was transportiert wird. Es gibt überall Checkpoints der Asayîş – das ist so etwas wie die Polizei der autonomen Selbstverwaltung. Allein dass eine relativ freie Recherche vor Ort möglich war, ist eine große Errungenschaft in der Region, auch wenn es von NGOs generell immer wieder Beanstandungen in puncto Pressefreiheit gibt.
Sie haben sich besonders auf die Themen Flucht, Krieg und Klimakrise fokussiert. Warum?
Der Krieg in Syrien dauert seit 14 Jahren an, und die Situation vor Ort ist extrem volatil. Die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) hat sich nach Selbstdarstellung als dritter Weg zwischen Assad und den dschihadistischen Kräften aufgebaut. Daran geknüpft: revolutionäre Versprechungen, wie Geschlechtergerechtigkeit, eine sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft und eine auf Räten aufgebaute Basisdemokratie.
Diese Ideen treffen auf extreme Dürren und Ernteausfälle, eine auf Monokultur und Agrochemie basierte Landwirtschaft und eine zerstörerische Förderung und Raffinierung von Erdöl in der Region. Dazu kommen der Drohnenkrieg und der Artilleriebeschuss durch die Türkei, der auch die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur trifft. Außerdem wird der Türkei vorgeworfen, immer wieder das Wasser künstlich zu verknappen – zum Beispiel den Zufluss des Euphrats – und somit als Kriegswaffe gegen die Zivilbevölkerung einzusetzen. Zudem gibt es in der Region die völlig überfüllten Lager und Gefängnisse mit mutmaßlichen IS-Terroristen und ihren Angehörigen. Der Westen lässt die Autonome Administration bei der Versorgung dieser Menschen und der juristischen Aufarbeitung im Stich.
Welche Rolle spielt Deutschland für diese Region?
Teile des Nahen Ostens werden in einer nicht allzu fernen Zukunft durch die Klimakatastrophe unbewohnbar werden. Ein Gegensteuern durch technologische Mittel ist für diese kriegsgebeutelte Region schlicht nicht leistbar. In der Folge werden sich mehr Menschen auf den Weg nach Europa machen. Da werden auch hochgerüstete Außengrenzen der EU nicht viel ändern. Wenn man will, dass Menschen in ihren Herkunftsländern gut leben können, müsste man da politisch intervenieren und die Autonome Administration unterstützen. Ein Anfang wäre, die Türkei unter Druck zu setzen, damit die Angriffe aufhören und die völkerrechtswidrig annektierten Gebiete zurückgegeben werden. Ich sehe da aber wenig Chancen.
Ausführlich werden Sie Ihre Ergebnisse in einem Podcast vorstellen. Wenn Sie es kurz fassen müssen: Was haben Sie aus der Reise gelernt?
Es gibt vieles, was ich gelernt habe. Aber vielleicht vor allem eins: Es gibt keinen idealen Zustand einer Revolution. Sie ist kein Wunschkonzert und konfrontiert mit handfesten gesellschaftlichen Realitäten sowie militärischen und politischen Erfordernissen. Es gibt einen Sachzwang des Krieges, der das Politische militarisieren kann. Daher ist es immer interessant, auch auf das zu schauen, was hinter den Barrikaden, im Alltag der Menschen, passiert.
Wie geht es jetzt weiter?
Aktuell benötigen wir Unterstützung für unseren Podcast über die Reise »Zwischen Euphrat und Tigris – Krieg, Flucht und Klimawandel im Zweistromland«. Das Crowdfunding findet sich auf unserer Webseite.
Jan Theurich ist freier Journalist und im Dunya Collective, einem unabhängigen Journalismus- und Medienkollektiv, aktiv. Er berichtete unter anderem 2020/21 von der griechischen Insel Lesbos über das Flüchtlingslager Moria und Anfang 2024 über den Generalstreik in Argentinien.
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