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Aus: Ausgabe vom 04.09.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Politik der Feindschaft

»Wir sind so frei«: Eine Langzeitdokumentation über Teilnehmer der Proteste beim G20-Gipfel im Juli 2017 in Hamburg
Von David Maiwald
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Die Polizei: Eine nirgends fassbare, allverbreitete gespenstische Erscheinung im Leben der zivilisierten Staaten

Am Anfang steht die Konstruktion des Feindes. Wie liberale Demokratien sich dieser bedienen, beschrieb Achille Mbembe in seinem Buch »Politik der Feindschaft« (2017). Im Dokumentarfilm »Wir sind so frei« läuft ein Mbembe-Zitat als Bildelement hinter einer Menschenreihe, die dank einer Person mit Rotkreuz-Weste im Bildvordergrund als eine Schlange von Geflüchteten interpretierbar ist. Der Feind überschreibt die Spaltung der Gesellschaft in Klassen mit ihrer scheinbaren Einigkeit, steht da sinngemäß.

Indirekt stellt sich so die Frage, ob es die Feindmarkierung ist, die Flüchtlingsaktivisten, Gewerkschaftsjugend, streikende Lieferfahrer, Beschäftigte von Amazon und Arbeitsrechtler in der Bundesrepublik miteinander verbindet. Der Kampf für eine bessere Gesellschaft ist für alle im Film zu Wort kommenden Personen die eindeutig bestimmende Frage. Die sich daraus ergebende Gegnerschaft des Staates, auch einseitig von diesem erklärt, zeigt sich ebenso deutlich.

Die Filmemacher Christian Lehmann-Feddersen und Alf Schreiber nähern sich ihren Protagonisten zu Beginn sehr einfühlsam und vorsichtig. Im Laufe des Films hingegen verschwinden einige der handelnden Personen fast vollständig hinter ihrem Tun, bleiben aber immer Teil der Bewegung, wenn auch manchmal ganz ohne eigene Geschichte oder Gesicht. Ihre Stimmen aber sind im gesamten Film vernehmbar, während der Zuschauer an diverse Familientische, in Kinderzimmer und WG-Küchen, vor Gerichtsgebäude und Atommülldeponien geführt wird. Mitunter läuft die Kamera auch nur nebenher und fängt Äußerungen von Aktivisten ein, die über Erfahrungen in ihren alltäglichen Kämpfen berichten. Die einzelnen Schicksale verschwimmen so zu einer Art Erfahrungsmasse, die für Zuschauer ohne Vorkenntnisse als schwer überschaubar oder überfordernd wirken kann.

Zunächst ist da Julia, die berichtet, wie sie als junge Frau ins Arbeitsleben eingestiegen ist. Sie habe gelernt, was es heißt, für wenig Lohn zu arbeiten. Bei einem Gemüsehändler hat sie 7,20 Euro die Stunde verdient. Während ihrer Ausbildung zur Krankenschwester erfährt sie, was der Rückhalt einer Gewerkschaft ausmachen kann. Schon vorher habe sie sich mit Freunden aus der Gewerkschaftsjugend für Klimaschutz organisiert, sagt sie, gibt ihrem Kind ein paar Küsschen auf die Wange und zieht ihm dickere Kleidung für regnerisches Wetter an. Auf den Straßen von Bonn ist Julia unterwegs und demonstriert. Wofür oder wogegen genau erfährt man nicht, nur einige Fahnen von Fridays for Future sind zu sehen.

Loïc erzählt zu Beginn von seinen drei Geschwistern. Seine Eltern sind Lehrer, erzählt er, seine kleine Schwester arbeitet als Sozialarbeiterin. Mit Geflüchteten und Menschen ohne Papiere. Nun erzählt er, in einem Gewächshaus in der französischen Region Grand Est auf dem Boden kniend, während seine Hände Unkraut jäten, vom kollektiven Leben auf dem Land. Von der Atommülldeponie Bure etwa, die gleich beim Hof hinter dem Hügel geplant ist. Vögel zwitschern laut, während Loïc über die Felder schlendert. Er erklärt, dass der Boden dort in Mandres-en-Barrois, auf dem viele Steine liegen, schon alles bereitstellt, um der Polizei zu begegnen – sollte sie angreifen.

Julia und Loïc haben erlebt, was es heißt, wenn die Polizei angreift. Was sie verbindet, ist die Erfahrung vom G20-Gipfel in Hamburg im Jahr 2017. Julia ist dabei, als ihr Demonstrationszug von einer Einsatzhundertschaft am Hamburger Rondenbarg brutal zusammengeschlagen wird. Loïc macht die Erfahrung einer internationalen Zielfahndung der Polizei, später mit Untersuchungshaft und drakonischer Strafe. Beide erleben, wie maskierte Polizisten überfallartig ihre Elternhäuser und Wohnungen stürmen, die Türen einschlagen und die Familie unter Druck setzen. Sie erzählen von Beamten, die nicht verstehen können, dass ein Nachbar im Moment der Festnahme fragt, ob er Loïc ein Glas Wasser bringen kann, oder auf Julias Bett sitzen, in ihrer Unterwäsche wühlen und dabei noch von ihr bemitleidet werden wollen.

»In welchem Rechtsstaat lebe ich eigentlich?« fragt Julias Vater, den die Erfahrung staatlicher Repression merklich erschüttert hat. Es macht ihn noch immer fassungslos, dass die Ermittler ihn mit der Ankündigung drangsalierten, Julias Ausbildungsstelle aufzusuchen, damit er ihnen ihren Wohnort verrät. Als er es dann eingeschüchtert tat, fuhren sie trotzdem zum Betrieb der Tochter. Julia, Loïc und ihre Familien haben erfahren, was Repression bedeutet. Sie haben erfahren, dass der Staat, der vorgibt, ihre bürgerlichen Rechte zu achten und zu garantieren, sich willkürlich aussucht, ob, wann und wie er das tut.

»Wir sind so frei« zeigt Erfahrungen mit einem Staat, der sich abgrenzt, der Mauern und Zäune hochzieht und das Leben für die Menschen unter Umständen nicht ungefährlich macht. So ist es wenig verwunderlich, dass das Gesicht einer Hamburger Aktivistin im Bild verwischt ist, ebenso das ihres Kindes. Ihren Namen erfahren wir auch nicht. Sie kocht mit ihrer Gruppe für Menschen in Geflüchtetenunterkünften, verteilt dort das Essen, spendet Kleidung und Spielsachen. Die Geflüchteten leben in einer Unterkunft im Hamburger Stadtteil Rahlstedt, vom Großstadtleben isoliert.

Der Film setzt viele Informationen voraus. Es wird nicht näher erklärt, dass Loïc mehr als 16 Monate in Untersuchungshaft saß und wegen der Anwesenheit bei einer unangemeldeten Demonstration während des G20-Gipfels zu drei Jahren Haft verurteilt wurde. Auch in viele andere Situationen wirft »Wir sind so frei« den Zuschauer hinein, ohne dass direkt klar ist, worum es im einzelnen geht: die Kämpfe von Amazon-Beschäftigten, eine Gerichtsverhandlung gegen gekündigte Fahrer vom Liefer-Start-Up Gorillas, die jährliche Demonstration im Gedenken an den 2005 in Polizeigewahrsam ermordeten Oury Jalloh. Die Szenen und Schauplätze folgen beinahe unkommentiert aufeinander, gelegentlich von zwischengeschnittenen Standbildern mit Karikaturen unterbrochen.

Auch der kritische, unter skandalösen Umständen geschasste ehemalige Verdi-Bereichsleiter Orhan Akman kommt zu Wort, ebenso die Verteidiger von Opfern von Polizeigewalt, die einen Prozess vor Gericht spektakulär zugunsten ihrer Mandanten gewinnen konnten. Sie erklären, wie schwer das eigentlich formal garantierte Recht hierzulande überhaupt noch einzulösen ist. So ist es letztlich gerade die Vielfalt der Stimmen in »Wir sind so frei«, die eine Verbindung zwischen den einzelnen Sprechenden und ihren Geschichten herstellt.

»Wir sind so frei«, Regie: Christian Lehmann-Feddersen und Alf Schreiber, BRD 2024, 97 Min., Kinostart: 5.9.

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