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Aus: Ausgabe vom 04.09.2024, Seite 12 / Thema

Kühnheit und Absicherung

Seltsam modern. Vor 200 Jahren wurde der österreichische Komponist Anton Bruckner geboren
Von Kai Köhler
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Im katholischen Glauben gefangen und gleichwohl modern: Anton Bruckner (1824–1896) am Klavier, im Hintergrund das Kreuz

Anton Bruckners Leben lässt sich auf verschiedene Weisen erzählen. Die erste Version herrschte lange Zeit vor, und sie hat den Vorteil der Anschaulichkeit. Zu ihr gehören nämlich die meisten der unzähligen Anekdoten, die über Bruckner zirkulieren und die ihn als bäuerlichen Naivling zeigen, in dem sich auf unerklärliche Weise musikalisches Genie festgesetzt habe.

Natürlich gehört auch zu dieser Version, was unstrittig ist. 1824 im oberösterreichischen Ansfelden als Sohn eines Schullehrers geboren, wird schon der Vierjährige zur praktischen Musikausübung in Schule und Kirche herangezogen. Nach dem Tod des Vaters kommt er als Sängerknabe ins Chorherrenstift St. Florian und beginnt zudem, Orgel und Violine zu lernen. Ausgebildet wird er hingegen zum Lehrer. Mit 17 tritt er den Dienst als »Schulgehülfe« in Windhaag an, einem Dörfchen mit etwa 200 Einwohnern. Lehrer und Priester beuten ihn aus; erst als er sich auch um die Mistfuhren kümmern soll, protestiert er. Wohlwollende Vorgesetzte – und das sind nach Lage der Dinge im damaligen Österreich Geistliche – sorgen für eine Versetzung. Mittlerweile als Lehrer examiniert, kehrt er nach St. Florian zurück. Dort wird er 1850 Hilfsorganist.

Lehrjahre

Der 26jährige bereitet seinen Berufswechsel zum Musiker vor, lässt sich aber weiter zum Lehrer für höhere Schulen ausbilden, bewirbt sich nebenbei als Kanzleischreiber, weil diesem Beruf immer schon seine Neigung gegolten habe – und lernt, studiert Partituren, sucht Ratschläge von Provinzautoritäten. Mit 31 Jahren, nach etlichen bestandenen Lehramtsprüfungen, lässt Bruckner sich überreden, für die Domorganistenstelle in Linz vorzuspielen. Nun hat er eine renommierte Stelle in einer größeren Stadt; und lernt. Sechs Jahre lang fährt er regelmäßig nach Wien und lässt sich von dem Musiktheoretiker Simon Sechter vor allem in Kontrapunkt unterrichten. Als der ihm nichts mehr beibringen kann, wendet sich Bruckner an den Kapellmeister Otto Kitzler, der noch zwei Jahre Formenlehre und Instrumentation draufpackt. Mit 39 Jahren komponiert Bruckner eine »Studiensymphonie«; am 10. Juli 1863 lässt er sich förmlich »freisprechen«, und 1864 erst setzt die Reihe der heute bekannten Werke ein. Nun entstehen neben drei Messen (und ein paar weiteren geistlichen Kompositionen) zehn Sinfonien, von denen Bruckner eine später annulliert hat.

Erste erfolgreiche Aufführungen veranlassen Bruckner, 1868 nach Wien überzusiedeln, wo er Hoforganist und am Konservatorium Professor für Harmonielehre, Kontrapunkt und Orgelspiel wird. Nun aber stößt er auf Widerstände. Die Sinfonien werden teils gar nicht aufgeführt, teils von den Musikern abgelehnt und von der Kritik zerrissen. Hier setzt das Besondere der ersten biographischen Version ein. Bruckner erscheint hier als Mann vom Dorf, der sich den Gepflogenheiten der städtischen Intellektuellen nicht unterwirft; der in Kleidung und Gehabe ungeschlacht und manchmal ein wenig lächerlich bleibt, wenig liest außer dem Katechismus und Büchern über Marienerscheinungen, aber festverwurzelt in seinem Glauben alle Anfeindungen übersteht. Und tatsächlich wird das Ausharren belohnt. Die erfolgreiche Uraufführung der 7. Sinfonie 1884, in Leipzig statt im noch brucknerfeindlichen Wien, bedeutet den Wendepunkt. Einige seiner Sinfonien etablieren sich im Repertoire. Als Bruckner 1896 stirbt, ist seine Bedeutung weithin anerkannt. Schon vorher, nach der Uraufführung der 8. Sinfonie 1892, hatte Eduard Hanslick, einer seiner ärgsten Kritiker, resigniert geschrieben: »Es ist nicht unmöglich, dass diesem traumverwirrten Katzenjammerstil die Zukunft gehört – eine Zukunft, die wir nicht darum beneiden.«

Diese erste Version, die vom gläubigen Dörfler, dessen Genie schließlich triumphiert, hat noch eine Fortsetzung. Keineswegs zwingend, ist diese Fortsetzung nicht völlig unverbunden mit dem Anfang. Da deutet man die Misshelligkeiten, die Bruckner mit Kritik, Publikum und Orchestern auszustehen hatte, zum nationalen Kampf um und stellt die monumentalen Sinfonien als musikalische Kathedralen dar, die im Volksboden wurzeln (um die Stimmigkeit ihrer Bilderwelt sind die Autoren dieser Richtung selten bemüht). Schlimmstenfalls kommt noch zur Sprache, dass Bruckners Hauptfeind Hanslick nach Nazikriterien Halbjude war; und tatsächlich gehörte Bruckner im Faschismus zu den besonders herausgestellten Komponisten.

Aufstieg

Eine zweite Version kommt mit denselben Daten zu einem völlig anderen Bild. Bruckner erscheint nun als zielstrebiger Sozialaufsteiger. Tatsächlich war der Weg vom Dorfschulhilfslehrer zum Dozenten an der Wiener Universität ebenso unwahrscheinlich wie die Entwicklung vom Komponisten unscheinbarer kirchlicher Gebrauchsmusik zum Schöpfer großangelegter weltlicher Sinfonien.

Noch als etablierter Domorganist sammelte Bruckner Zeugnisse. Er schaffte es, Prüfungen sogar dort abzulegen, wo eigentlich gar keine vorgesehen waren. In diesen Zusammenhang gehören auch die zahlreichen Bittgesuche, die Bruckner in einer auch nach den Maßstäben der Zeit schnörkelreichen und unterwürfigen Sprache abfasste und die den Empfängern zuweilen peinlich waren. Liest man indessen die im Jahresabstand ausgestellten Zeugnisse Sechters, so wird klar, dass Bruckner einen detaillierten und zuletzt lückenlosen Nachweis über alle Gebiete der Kompositionstheorie sammelte, mit der Bescheinigung von 1861, »selbst Unterricht in diesem Fache mit wahrem Nutzen geben zu können«.

Eine Bewerbung bei der Wiener Universität als Kompositionslehrer scheiterte zwar 1867 daran, dass es überhaupt keine solche Stelle gab, ebenso sieben Jahre später der Antrag Bruckners, dort Professor für Musiktheorie zu werden. Doch gab man 1875 seinem Drängen nach, und er wurde Lektor für Harmonielehre und Kontrapunkt. Die Position war zwar zunächst unbesoldet. Nun aber wurde Bruckner jüngeren Musikern bekannt, von denen sich dann mehrere für Aufführungen seiner Werke einsetzten. Seine Antrittsvorlesung, dies nebenbei, zeigt keineswegs einen Trottel, der wirklich gut nur Beten und Notenschreiben kann. Klar strukturiert und in deutlicher Sprache legt Bruckner den Entwicklungsstand der Musik und die Funktion des neuen, von ihm vertretenen Fachs dar.

Und von seinen Bittgesuchen, um dies nachzutragen, hatten etliche zuletzt Erfolg. Offensichtlich konnte Bruckner nicht nur als Orgelspieler verschiedene Register bedienen, sondern auch lebenspraktisch. Möglicherweise präsentierte er sich in gewissem Grade bewusst als der dialektfrohe Dörfler, der die Abende lieber in der Bierstube als im literarischen Salon verbrachte; autobiographische Zeugnisse, die darüber Aufschluss geben könnten, fehlen.

Absicherung

Wer eine dritte Version vertritt, mag das anerkennen und kann trotzdem darauf hinweisen, dass kein Komponist vergleichbarer Bedeutung derart gezögert, sich ähnlich abgesichert hat. Bruckner war zweifellos bereit, sich Autoritäten zu unterwerfen, geistlichen wie weltlichen. Peinlich ist sein Verhalten gegenüber Richard Wagner, den er als »Meister« ansprach, während der so Verehrte gnädig die Widmung einer Sinfonie annahm und sich einen Vertreter seiner Sache in Wien allein schon dadurch sicherte, dass er Bruckner so regelmäßig wie folgenlos Aufführungen von dessen Sinfonien versprach. Als unbedingtes Gesetz galt aber auch, was Bruckner als Handwerk gelernt hatte. Noch der anerkannte Komponist legte einem Schüler eine neu geschriebene Passage mit der Frage vor, ob man denn so komponieren dürfe.

Impulse der Befreiung gingen mit zwanghaften Handlungen einher. Knapp vier Jahre nach der »Lossprechung«, als die ersten gültigen Werke in schneller Abfolge entstanden, geriet Bruckners Zählzwang außer Kontrolle. Wie viele Blätter hat der Baum, wie viele I-Punkte das Buch? Ein mehrmonatiger Sanatoriumsaufenthalt stellte die Arbeitsfähigkeit wieder her, die Bruckner auch brauchen sollte. Die Unterrichtsverpflichtungen und die praktischen musikalischen Aufgaben der Wiener Zeit konnten alleine schon eine normale Arbeitskraft erschöpfen. Die Sinfonien entstanden in der knappen Freizeit; Bruckners Umgebung dürfte ihn bis 1884 als Musiker und Lehrer gesehen haben, der nebenbei komponierte, und zwar mit ziemlich befremdlichen Ergebnissen.

Ein Streben nach Sicherheit auch im Finanziellen? Bruckner war niemals ein Großverdiener und zahlte zuweilen drauf, wenn er die Wiener Philharmoniker für eine Uraufführung mietete oder es um den Druck einer Partitur ging. Vor dem Hungertod, den er manchmal fürchtete, stand er nie. Er hatte sein Auskommen und hätte es auch mit ein paar Privatschülern weniger gehabt. Dass er sich dennoch der Fron unterwarf, ist ein Hinweis auf ein schlechtes Gewissen, Kunst zu machen statt was Solides.

Dazu trug die lange Zeit negative Rezeption bei. Geradezu traumatisch muss die Uraufführung der 3. Sinfonie 1877 gewesen sein. Das Orchester war ohnehin feindselig, die meisten Zuhörer verließen lachend und johlend den Konzertsaal, und am Ende blieb nur eine kleine Gruppe von Anhängern, die versuchte, den Komponisten zu trösten.

Damit verbunden ist das Problem der Fassungen. Besonders diese 3. Sinfonie, aber auch die meisten anderen, hat Bruckner immer wieder umgearbeitet. Es ist schon schwierig genug, zu unterscheiden, wo er wirkliche Verbesserungen anzubringen glaubte, sich auch sein Kompositionsstil entwickelt hatte, und wo er meinte, sich dem Publikumsgeschmack anpassen zu müssen. Zusätzlich haben seine Schüler die Werke für Aufführungen geändert. Sie kürzten rücksichtslos, passten die Instrumentation dem Zeitgeschmack an und milderten manche harmonische Wendung. Nicht immer geht zu entscheiden, welchen Änderungen Bruckner aus Pragmatismus zustimmte und welchen aus Überzeugung, aber welchen gar nicht. Die psychologischen Probleme haben hier unmittelbar solche der Werkgestalt zur Folge.

Ausgreifen

Der Provinzler als Originalgenie, der planvoll handelnde Aufsteiger und der Künstler voller Angst, einer zu sein – diese Figuren sind auf den ersten Blick nur schwer auf einen Nenner zu bringen. Der Konfliktbereich ist jedoch immer der gleiche. Auf der einen Seite steht das Herkömmliche, Geregelte, als sichere Grundlage. Auf der anderen Seite wirkt das Ausgreifen auf ein Neues, Höheres dabei stets Gefährdetes. Dies zeigt sich bei Bruckner in biographisch wie künstlerisch besonderer Weise.

Sozialer Aufstieg durchs Komponieren war nicht ungewöhnlich. Johannes Brahms war Sohn eines Kontrabassisten, der in Tanzlokalen aufspielte, und starb als Besitzer eines ansehnlichen Aktienpakets. Gustav Mahler stammte aus kleinen Verhältnissen in einem böhmischen Kaff und wurde international anerkannter Dirigent. Beiden aber gelang es im Gegensatz zu Bruckner, sich einen bildungsbürgerlichen Habitus zuzulegen. Bruckner hingegen löste sich nicht von der Position des Außenseiters. Brahms schrieb über ihn in einem Brief: »Alles hat seine Grenzen. Bruckner liegt jenseits, über seine Sachen (…) kann man nicht reden. Über den Menschen auch nicht. Er ist ein armer, verrückter Mensch, den die Pfaffen von St. Florian auf dem Gewissen haben.«

Polemische Abwertungen durch Kritiker, die Brahms nahestanden, lassen sich zu Dutzenden anführen. Neben dem schon zitierten »traumverwirrten Katzenjammerstil« oder der Behauptung, Bruckner komponiere aufgrund einer zerrütteten Phantasie wie ein Betrunkener (Gustav Dömpke) findet sich die bündige Zusammenfassung: »Das Grundübel sämmtlicher Brucknerscher Composition besteht in dem absoluten Unvermögen ihres Autors, nach den Gesetzen musikalischer Logik zu denken und zu handeln« (Max Kalbeck).

Aus all dem ergibt sich, dass es nicht allein gegen die unangepasste Person Bruckner geht. Vielmehr scheint den Werken ein Moment der Irritation anzugehören, dem gegenüber das heutige Publikum taub geworden ist. Man kann das mit Gründen als Fortschritt werten: Was vor 150 Jahren absurd schien, wird heute verstanden. Wenn man heute Brahms wie Bruckner gleichermaßen mögen kann, steht das zugleich für ein Moment der Entdifferenzierung. Man nimmt kaum mehr das Einzigartige von Bruckners Kompostionen wahr und gar nicht das Irritierende dieser Werke.

Konfrontationen

Die Sinfonien – und um sie geht es, wenn es um Bruckner geht, in erster Linie – wirken zunächst als monumentale Blöcke. Wenn die 6., als einzige unter den späteren, unter einer Stunde Spieldauer bleibt, wirkt dies schon als relativ kleinformatig. Die Blöcke scheinen ihrerseits wiederum in einzelne, klar abgegrenzte Teile gegliedert. Dies wird von der Instrumentation unterstützt, die häufig Streicher, Holzbläser, Blechbläser kontrastiert. Man hat das mit den Registerwechseln verglichen, die dem Organisten Bruckner gewohnt gewesen sein müssen. Jedenfalls verwendete der Wagner-Anhänger Bruckner nur selten Wagnerische Mischklänge.

Der Aufbau seiner Sinfonien gilt als schematisch: Je drei Themengruppen werden in den Ecksätzen verarbeitet, im langsamen Satz wechseln sich zwei Themen ab, danach (und selten davor) steht ein Scherzo mit Trio. Ein sehr guter Bruckner-Dirigent riet kürzlich in einem Gesprächskonzert dem Publikum, in jeder Bruckner-Sinfonie zehn Figuren, die ein Drama aufführen, zu erkennen. So werde die Form übersichtlich.

Dies stützt unfreiwillig die boshafte Bemerkung, Bruckner habe nur eine Sinfonie komponiert, diese aber neunmal. Allerdings ist die Bemerkung ebenso Unfug wie die Zehn-Figuren-Behauptung. Letztere lässt sich faktisch widerlegen: Die Adagios der Sinfonien 1 und 6 haben drei Themen (also je plus eins); das Scherzothema der 5. ist eine schnelle Version des Adagiothema (minus eins), doch gibt es in diesem Fall eine eigenständige Einleitung (plus eins; oder plus drei, weil diese Einleitung drei relativ eigenständige Motive bringt?). Die dritten Themengruppen sind häufig von Varianten der ersten gebildet. Das gilt etwa für das Finale der 7. Sinfonie, wo darum in der umgestellten Reprise das dritte Thema die Funktion des ersten einnehmen kann und die Wiederkehr des ersten zugleich als Schluss die Coda bildet. Zudem ist das letztere eine beschleunigte Variante des Hauptthemas aus dem ersten Satz. So ist das Finale insgesamt eine Zeitrafferversion dieses Beginns. Eine Spielerei für Spezialisten? Nein, ein Beispiel für die Vielfalt an Möglichkeiten, Zeit (und damit Geschichte) musikalisch sinnvoll zu gestalten.

Und überhaupt die Rede von den »Themengruppen«! Am Beginn der 9., mit der Vortragsbezeichnung »feierlich, misterioso«, steht ein Streichertremolo, aus dem sich, mit dem Rhythmus lang – kurz – lang, ein Motiv der Hörner löst. Es scheint immer wieder in sich zusammenzusinken, bis sich nach einer harmonischen Rückung ein Aufschwung ereignet, der nach einer Zwischenstation zu einer großangelegten Steigerung führt. Sie mündet in ein mit dreifachem Forte herausgemeißeltes Thema, dessen Kopf den Hörnerrhythmus aufnimmt. Es ist die bis dahin klarste Bildung der Sinfonie, und zunächst nimmt man es als das Hauptthema des Satzes wahr, für das alles Vorangehende Vorbereitung war. Doch werden später alles Motive gleichrangig durchgeführt.

Mehr Personen also? Der Beginn der zweiten Themengruppe ist ebenso von dem Leitrhythmus geprägt wie das Hauptmotiv des unvollendeten Finales. Bei näherer Betrachtung vervielfacht sich die Zahl der zehn Figuren ebenso wie sie sich verringert. Dies verweist auf eine musikalische Qualität, die zugleich eine des Inhalts ist. Bruckner komponierte die Einheit in der Vielfalt. Seine Werke sind keine Potpourris unverbundener Ideen, sondern sind in sich geschlossene Welten, in denen Widersprüche ausgetragen werden.

Dies allein allerdings gibt noch keine Erklärung, weshalb die Werke einen solch großen Widerstand fanden. Eine solche Einheit in der Vielfalt findet man ebenso bei Beethoven, und von ihm übernahm sie außer Bruckner auch der Bruckner-Feind Brahms. Aber es gibt Besonderheiten dieser Werke, und sie zu benennen, kann ihren einzigartigen Status erklären.

Vor allem in den frühen Sinfonien scheinen die Formteile blockhaft voneinander abgesetzt. Dass der Eindruck des Schematismus trügt, sollte deutlich geworden sein. Tatsächlich aber gibt es Elemente, die die Funktion dieser auf der Oberfläche überdeutlichen Form unterlaufen. So komponiert Bruckner häufig Abschnitte, in denen der Verlauf stockt oder sich sogar aufzulösen scheint. Fast regelmäßig finden sich solche Passagen in den ersten Sätzen zwischen Themenaufstellung und Durchführung und häufig in den Adagios vor der je gesteigerten Wiederkehr der ersten Themenkomplexe. Das Bruckner zugeschriebene Zitat, er müsse, bevor er etwas Wichtiges sage, Ruhe schaffen, mag anekdotisch verfälscht sein. Es trifft aber musikalisch die Wahrheit, dass bei Bruckner der Wechsel von Entspannung und Spannung, von Zerfall und Zusammenballung die äußerlichen, traditionell vorgegebenen Formen überlagert.

Das hat Einfluss auf den Status der Themen. Bruckner kann, wo immer er sie braucht, Motive finden, die prägnant sind und sich auch für die musikalische Arbeit eignen. Als Melodiker ist er kaum zu übertreffen; die je zweiten Themengruppen sind von einem unerschöpflichen Reichtum auch darin, dass in ihnen gleichzeitig die verschiedenen Stimmen ganz unterschiedliche Wendungen spielen, von denen jede einem durchschnittlichen Komponisten zur Ehre gereicht hätte, die aber erst im Zusammenklang die Schönheit des Ganzen entfalten. Wahrscheinlich hätte nichts von all dem Widerstände hervorgerufen, wäre nicht Bruckner auf eigene Weise mit diesen Einfällen umgegangen. Die herrlichsten Melodien, wie in den zweiten Themengruppen in den Adagios der 5. und 8. Sinfonie, reduziert er auf einfachste Tongruppen, nur um »Ruhe zu schaffen«. Hier wird das Material nicht, wie die Linie Haydn – Beethoven – Brahms – Schönberg es fordert, verarbeitet, sondern ausgedünnt. Und die Motive der Ecksätze geraten in der Durchführung, sogar mehr noch in den Schlussabschnitten, in den Sog großer Steigerungen, verlieren dabei mehr oder minder ihre melodische Eigenart und enden, im Extrem, als bloßer Rhythmus.

Energetische Wucht

Einer Musikästhetik, die einem herkömmlichen Modell von Differenzierung folgt, musste ein solcher Umgang mit dem Material als primitiv erscheinen. Bruckner radikalisiert den Wechsel von Anspannung und Entspannung, der sich bereits bei seinen Vorgängern findet. Bei ihm erscheint er weniger als diskursive Entwicklung, sondern vorrangig als Abfolge von Zusammenballung und Zerfall. Gerade seine ausgedehnten Steigerungspassagen mobilisieren eine energetische Wucht, die geeignet war, das zeitgenössische Publikum zu verschrecken. Solch barbarisch wirkende Prachtentfaltung ist manchmal abrupt gegen Phasen der Ruhe gestellt, manchmal durch Überleitungen mit ihnen verbunden, oft aber durch Pausen von ihnen getrennt. Bei Bruckner wird auch die Stille zum musikalischen Baustein.

Wie er sein motivisches Material streckt oder staucht, trägt ebenfalls zur Charakteristik seines Werks bei. Nicht nur die Sinfonien wirken wie Felder, in denen enorme Kräfte aufeinanderstoßen. Gleiches gilt für die geistlichen Chorwerke mit Orchester. Das »Te Deum« etwa klingt über weite Strecken weniger nach frommem Gotteslob als nach weltlicher Machtdemonstration.

Zweifellos lädt ein solcher Monumentalismus zu ideologischem Missbrauch ein. Aber er bezeichnet tatsächlich wirkende Kräfte: In Bruckners Kompositionen wird hörbar, wie sie aufeinanderprallen. Wie dies klingt, das hat die Mehrzahl seiner Zeitgenossen irritiert. Tatsächlich aber hat Bruckner, der seine Werke unermüdlich überarbeitete, an der Legitimation der Verläufe unermüdlich gefeilt.

Als Beispiel wurde schon genannt, wie er die 9. Sinfonie beginnt. Ein Streichertremolo steht nicht nur hier am Werkanfang. Bruckner-Apologeten mit einer Vorliebe fürs Schwiemeln haben von »Urnebel« gesprochen. Tatsächlich aber handelt es sich zunächst um ein Klangphänomen. Dieses Phänomen allerdings – und nur darin trifft die mythisierende Metapher zu – verweist als Antwortversuch auf eine Frage, nämlich wie sich ein Anfang begründen lässt. Mehrfach setzt Bruckner mit einer scheinbaren Statik ein, in der aber ein Widerspruch verborgen ist, der zu einer Entwicklung führt. Doch hat er auch andere Lösungen gefunden. Die 3. Sinfonie beginnt mit einem Klanggitter, das die ein Jahrhundert später erfundene Minimal Music vorwegnimmt, und vor diesem Hintergrund ertönt ein Trompetenmotiv, das sich als Hauptthema des Werks herausstellt. Die 6. setzt mit einem Streicherrhythmus in hoher Lage ein, dem Bruckner eine Melodie im Bassbereich entgegensetzt. Hier setzt die Verdichtung zwischen den Extremen den Verlauf in Gang. Und während die Sinfonien meist in scheinbarer Ruhe beginnen, kennen manche Anfangstakte der Finalsätze analoge Medien der Unruhe. Es hat sich etwas ereignet, und das hat Folgen.

Manischer Änderer

Das sind Fragen der musikalischen Zeit, und die Antworten bezeichnen einen Inhalt. Gibt es bei Bruckner etwas Nacherzählbares, das konkreter ist? Schließlich hat er selbst ein paar programmatische Stichpunkte geliefert. Sie reichen von »auf stolzen Rossen sprengen die Ritter ins Freie« (4. Sinfonie) bis zu »so als der deutsche Michel schon von seiner Reise kommt, ist alles schon im Glanze« (8.). Nichts davon reicht entfernt an die Qualität der musikalischen Verläufe heran oder kann auch nur etwas von ihnen erhellen.

Gleiches gilt für die Religion. Sicher ist, dass Bruckner streng katholisch war und die Dogmen seiner geistlichen Vorgesetzten nicht bezweifelte. Auch finden sich in fast jeder seiner Sinfonien Choralintonationen. Dies ändert nichts daran, dass sie in einen autonomen musikalischen Verlauf eingeschmolzen sind. Gleiches gilt für die Volksmusikanklänge, die Bruckners nationale Verehrer als Beleg seiner Verbundenheit mit dem Deutschen fehldeuteten. Das mag sogar stimmen für das Bewusstsein des Komponisten, der seine Zeit an Texte wie »Germanenzug« und »Helgoland« verschwendete. Es stimmt nicht für den Gehalt der Hauptwerke.

Hat also Bruckner als Musiker seine zögerliche Persönlichkeit überwunden? »Kein Cäsar würde den Componisten fürchten, und doch componiert er nichts als Hochverrat, Empörung und Tyrannenmord!« warnte der Brahmsianer Max Kalbeck. Aber Kalbeck hatte nicht einmal die Erstfassungen der Sinfonien Nummer 3 und 4 gehört, die erst lange nach Bruckners Tod uraufgeführt wurden. Hier sind rhythmische Muster rücksichtslos gegeneinandergestellt, die Instrumentalklänge sind weitaus härter als in den späteren Versionen. Bruckner änderte und änderte, damit es endlich richtig sein sollte. Zeitverschwendung für dieses überflüssige Tun kostete ihn und uns nicht nur das Ende der 9., des Hauptwerks der Sinfonik. Es brach auch mögliche Entwicklungen ab. Wir haben sehr viel, und vielleicht hätten wir anderes haben können.

Kai Köhler schrieb an dieser Stelle zuletzt am 1. August 2024 über das Scheitern des Warschauer Aufstands gegen die deutschen Besatzer 1944

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