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Aus: Ausgabe vom 04.09.2024, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Autoritärer Charakter

Von Felix Bartels
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Da gerät einiges durcheinander. Rebellion gegen die Wirklichkeit (Stuttgart, 16.5.2020)

Der Aufstieg der AfD bringt alte Fragen neu aufs Parkett. Von den drei Seiten, Faschismus zu fassen – Herrschaftsform, politische Bewegung, Ideologie –, treten zwei in den Hintergrund: Die AfD hat keinen ausgeformten ideologischen Apparat, und sie ist nicht an der Macht. So dominiert einstweilen die Frage nach ihr als politischer Bewegung.

Hier kommt – unter anderem – der Begriff des autoritären Charakters ins Spiel. Das Frankfurter Institut für Sozialforschung hat in den 1940er Jahren eine Typologie entwickelt, 1950 von Theodor W. Adorno gesondert und beschränkt auf seine Beiträge zum Projekt publiziert. Grundlage waren Tausende Interviews mit Bewohnern der USA. Etwas später übrigens adaptierte Hans Magnus Enzensberger das Verfahren im »Verhör von Habanna«, um eine Typologie der Konterrevolution zu entwickeln. Gewiss entstehen bei dieser Methode idealtypische Persönlichkeiten, aber die Idealform ermöglicht, Anteile im Handeln und Denken wirklicher Personen zu identifizieren. Die Typologie des autoritären Charakters beschreibt Quellen von Vorurteilen, Ressentiments und destruktivem Handeln. Sie kann beitragen zu verstehen, wie AfD-Wähler ticken.

Der erste Typus ist das Oberflächenressentiment. Er übernimmt Vorurteile von außen als vorgefertigte Formeln, um persönliche Schwierigkeiten zu rationalisieren. Hier fehlt die affektive Wucht, es scheint ganz pragmatisch in seiner Funktion. Persönliche Erfahrung wird nicht gänzlich im Vorurteil vernichtet, manchmal sogar bewusst mit ihm vermittelt. Personen dieses Typus haben oft nicht persönlich was gegen die von ihnen diskriminierten Gruppen, machen aber zum Beispiel Zuwanderer als ganzes für ihr persönliches Versagen im kapitalistischen Konkurrenzkampf verantwortlich.

Der konventionelle Typus gleicht dem oberflächlichen darin, dass er das Vorurteil von außen übernimmt. Es erfüllt bei ihm aber weniger persönliche Funktionen, es repräsentiert vielmehr moralische Norm. Fremd- und Eigengruppe werden strikt getrennt, was die Identifikation mit der eigenen Gruppe erleichtert. Es geht um Werte – Sauberkeit, Anstand, die Ordnung der Dinge, Bewahrung von Weiblichkeit, Männlichkeit usw. –, die der Fremdgruppe abgesprochen werden oder die man durch sie bedroht sieht.

Der dritte Typus, das autoritäre Syndrom, kommt dem klassischen Muster der Psychoanalyse am nächsten. Wie das Kind den Hass gegen die Eltern in Liebe verwandelt und damit sadomasochistisch bewältigt, wird mit der Unterordnung unter gesellschaftliche Zwänge der Trieb verdrängt, aber nicht beseitigt. Der Typus buckelt nach oben und tritt nach unten. Nicht zufällig trifft es dann meistens gesellschaftliche Gruppen, die noch weniger haben, noch mehr am Rand stehen als er.

Der vierte Typus dagegen tauscht Unterordnung gegen Rebellion. Vom genuinen Rebellen unterscheidet ihn, dass er dabei nicht geschafft hat, die sadomasochistische Struktur zu überwinden. Hinter der Pose des Rebellen bleibt die autoritäre Struktur erhalten, der Wunsch nach Unterordnung wird in die Ferne – zeitlich, geographisch oder ins Ideelle – übertragen.

Auch der fünfte Typus, der Spinner, rebelliert, doch nicht allein gegen die Autorität, sondern gegen die Wirklichkeit insgesamt. An ihre Stelle tritt eine alternative Welt, durch die er vermeiden kann, das Realitätsprinzip offen zu verletzen. In dieser inneren Welt regieren die Juden, die WHO, bereitet ein islamfreundlicher Deep State den » Großen Austausch« vor usw.

Der sechste Typus ist manipulativ. Überzeugungen sind ihm nicht Zweck, sondern Mittel. Der Spinner vollzieht den Bruch mit der Welt theoretisch, der Manipulierende praktisch, alles wird ihm Objekt zur Kontrolle. Folgerichtig wechselt er hin und wieder das politische Lager. Das Klischee des charismatischen Exlinken, der heute bei mittigen oder rechten Parteien den Ton angibt, kann hier erinnert werden.

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  • Leserbrief von Jürgen Lloyd aus Krefeld (4. September 2024 um 13:43 Uhr)
    »Auch der Marxismus hat viele Hintertüren, durch die ein pfiffiger Kopf wieder aus ihm hinausgelangen kann« – die Wahrheit dieses vom Faschismusforscher Reinhard Opitz formulierten Hinweises wurde von Felix Bartels in seinem »Rotlicht« vom 4.9. augenfällig demonstriert. Da – so Bartels – die AfD nicht an der Macht sei, gehöre auch das Thema Herrschaftsform für die Erklärung des Faschismus allenfalls in den Hintergrund der Betrachtung. Das ist nur dann schlüssig, wenn man bei Herrschaft lediglich an die vermeintliche »Herrschaft« der AfD oder eine solche der NSDAP denken kann, statt an die reale Herrschaft des monopolistischen Kapitals. Für Bartels dominiert einstweilen die Frage nach dem Faschismus als politischer Bewegung und dazu empfiehlt er das Konstrukt »Autoritärer Charakter«, um zu klären, »wie AfD-Wähler ticken«. Mal abgesehen davon, dass es klügere Antworten auf die Frage nach der Genese und Verbreitung faschismuskonformer Bewusstseinsinhalte gibt, als die Theorien der Frankfurter Schule, erscheint mir etwas anderes unverständlich: Wenn Marxistinnen und Marxisten sich dafür interessieren, wie solche Inhalte in die Köpfe kommen, warum verzichten sie dann darauf, als erstes (!) zu klären, welcher Bedarf an solchen Inhalten in dieser Gesellschaft existiert? Hierzu müssten sie allerdings – da es sich um einen Herrschaftsbedarf handelt – doch nach den Herrschaftsverhältnissen fragen. Wer das – wie Bartels – meidet, gelangt flott raus durch eine der größten der von Opitz erwähnten Hintertüren.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (5. September 2024 um 11:52 Uhr)
      »Wenn Marxistinnen und Marxisten sich dafür interessieren, wie solche Inhalte in die Köpfe kommen, warum verzichten sie dann darauf, als erstes (!) zu klären, welcher Bedarf an solchen Inhalten in dieser Gesellschaft existiert?« Warum ist es so wichtig, zu erforschen, wie faschistische Inhalte in die Köpfe kommen? Besteht da nicht die Gefahr, dass man diesen »Köpfen« auch noch Verständnis entgegenbringt, statt sie bekämpfen. In der UZ, für die ja Lloyd schreibt, ist mir schon öfters aufgefallen, dass man bei den Querdenkern Fortschrittliches hineininterpretiert. Da wird zum Beispiel im Artikel »Systemrelevant menschenverachtend« behauptet, dass sich »auf Seiten der Proteste gegen die staatlichen (Corona-)Maßnahmen antimonopolistische Interessen Ausdruck verschaffen«. Hängt das mit der seltsamen, schwer verständlichen »Antimonopolistischen Strategie« der DKP zusammen?

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