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Aus: Ausgabe vom 04.09.2024, Seite 15 / Antifaschismus
Antifaschistischer Widerstand

Europäische Botin aus Berlin

Am 2. September jährte sich der Geburtstag der Ökonomin und Politikerin Ursula Hirschmann. 1935 schloss sie sich in Triest dem antifaschistischen Widerstand an
Von Barbara Eder
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Ursula Hirschmann wurde am 2. September 1913 in Berlin geboren

Im Jahr 1926 führten die vom Ministerrat in nur einer Nacht verabschiedeten Gesetze zum Ausnahmezustand in ganz Italien. »Ein revolutionäres Regime hat seine revolutionären Gesetze, die es schützen«, hieß es dazu am 1. November 1926 in Il Popolo d’Italia, der von Mussolini 1914 mitbegründeten Tageszeitung der Nationalen Faschistischen Partei Italiens (Partito Nazionale Fascista, PNF). Mussolini hatte mit Worten zu lügen gelernt: Antifaschistische Parteien waren nicht länger bei Wahlen zugelassen, die Strukturen oppositioneller Zusammenhänge zerstört und die Pressefreiheit aufgehoben. Nach dem 9. November 1926 war auch die Lage der Kommunistischen Partei Italiens (Partito Comunista d’Italia, PCd’I) dramatisch. Dem Verbot folgte die Verhaftung von Antonio Gramsci, die meisten Mitglieder des Politbüros befanden sich im Gefängnis, und die Partei war vorübergehend führungslos – bis Camilla Ravera, eines ihrer Gründungsmitglieder, die PCd’I-Führung im Untergrund übernahm.

Neben den »Numeri« – den regionalen Parteisekretären von Friaul über Belluno bis nach Treviso, Veronese und Vicenza – setzte die PCd’I bei ihrer klandestinen Tätigkeit auf die Arbeit von »Flamingos« – Genossinnen, die als Botinnen und Kurierinnen im antifaschistischen Widerstand tätig waren. Sie spielten eine maßgebliche Rolle beim Transport von Nachrichten und Personen, überbrachten Schriftstücke mit strategischen Anweisungen, Berichte über die politische Lage oder Informationen über bevorstehende Aktionen. Die »Flamingos« waren auch dafür verantwortlich, logistische Unterstützung zu leisten, organisierten Fluchten aus gefährlichen Gebieten und stellten Quartiere zur Verfügung. Durch ihre Kontakte konnte das Netzwerk der antifaschistischen Widerstandsbewegung aufrechterhalten werden; sie nutzen geheime Kommunikationskanäle und Decknamen, um ihre Identität und die Inhalte ihrer Nachrichten zu schützen.

Der in Berlin geborenen Antifaschistin und Ökonomin Ursula Hirschmann kam eine Position zwischen »Nummer« und »Flamingo« zu. Ein Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, am 2. September 1913, in eine bürgerliche jüdische Familie geboren, politisierte sie sich während ihrer Schulzeit gemeinsam mit ihrem Bruder Albert. In jungen Jahren traten beide in die Jugendorganisation der deutschen Sozialdemokratischen Partei ein und gehörten zu den frühen Gegnern Hitlers. 1935 folgte Ursula Hirschmann ihrem Freund, dem Sozialisten ­Eugenio ­Colorni, nach Triest und engagierte sich dort im antifaschistischen Widerstand. Nachdem Colorni 1939 ins »Polizeiexil« auf die Insel Ventotene verbannt wurde, nutzte sie ihre Bewegungsfreiheit zwischen dem Festland und der Insel. 1941 schmuggelte sie die auf Ventotene von Colorni und Altiero Spinelli verfasste Schrift »Per un’Europa libera e unita. Progetto d’un manifesto« auf Zigarettenpapier aus der Verbanntenzone. Gemeinsam mit Giuliana Pozzi, Luisa Usellini und Ada Rossi sorgte sie für die Verbreitung des föderalistischen Europamanifests zuerst in Mailand, dann in Rom. Kurz vor der Befreiung Roms wird Hirschmanns Partner Eugenio Colorni durch faschistische Milizionäre der »Banda Koch« festgenommen und stirbt im Mai 1944 an den Folgen seiner Verletzungen.

In einer Skizze mit dem Titel »Berlin, Berlin, Berlin«, welche die Basis für ihre 1993 erschienene Autobiographie »Noi, senza patria« bildete, kritisiert Ursula Hirschmann unter anderem auch die als »deutsch« beschriebene Neigung, sich in politischen Umbruchsituationen aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen und in die »Innerlichkeit« zu flüchten – eine Form des Rückzugs, durch die der Widerstand nicht dauerhaft am Laufen gehalten werden könne. Bei den Antifaschisten im Triest der 1930er Jahre lernte sie offensivere Strategien kennen, zuvor lebte sie 1935 für einige Monate in Paris. Der Kommunist Angelo Tasca, der Italien 1926 verlassen hatte, um dem faschistischen Regime zu entkommen, hatte Hirschmann den Kontakt zu einem jungen Antifaschisten namens Renzo Giua vermittelt.

Über die politische Szenerie vor Ort schreibt Hirschmann: »Diese Mischung aus persönlicher und politischer Rede existierte nicht in unseren deutschen Kreisen, die einen eher asketischen Charakter hatten. Zum ersten Mal begann ich, mich über den Leiter der Gruppe junger deutscher Kommunisten in Paris lustig zu machen, den ich oft sah und der seine Reden immer mit diesen Worten begann: ›Genossen, wir sprechen zuerst sachlich und dann persönlich, zuerst objektiv und dann subjektiv.‹« Ihre Memoiren, die ihre Erfahrungen im antifaschistischen Widerstand über drei Länder hinweg bündeln, konnte die spätere Lebensgefährtin von Altiero Spinelli bis zu ihrem Tod am 8. Januar 1991 nicht mehr fertigstellen. Im Dezember 1975 erlitt Ursula Hirschmann eine Hirnblutung, gefolgt von einer Aphasie. Noch im selben Jahr hatte sie in Brüssel die Vereinigung »Frauen für Europa« gegründet – im Bewusstsein, das zeitlebens föderalistisch verstandene »Projekt Europa« auch zu einem feministischen zu machen.

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