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Aus: Ausgabe vom 05.09.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Linke Politik

»Arbeiter haben Klasse, nicht Farbe«

Krieg, der Aufstieg der extremen Rechten und die Chancen linker Politik. Ein Gespräch mit Jeremy Corbyn
Von Carmela Negrete und Phil Butland
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An der Seite Palästinas: Jeremy Corbyn auf einer Demonstration zum Jahrestag der Nakba (London, 18.5.2024)

Auf dem NATO-Gipfel im Juli wurde die Stationierung weitreichender US-Raketen in Deutschland vereinbart. Wie bewerten Sie dieses Abkommen?

Wir müssen alle erkennen, dass die militärischen Allianzen, die das politische Denken von Europa beherrschen, von der NATO ausgehen. Der Hauptantrieb der Außen- und Wirtschaftspolitik ist jetzt, dass alle Länder ihre Militärausgaben auf mindestens 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöhen. Im Fall von Großbritannien bedeutet dies weitere 30 Milliarden Pfund pro Jahr für Rüstung. Gleichzeitig werden wie in allen Ländern Europas die Sozialausgaben gekürzt.

Jetzt versucht die Europäische Union unter der Führung von Ursula von der Leyen, sich ebenfalls als Militärblock zu entwickeln. Die Gefahren der zunehmenden Militarisierung der Wirtschaft und Gesellschaft im Westen sind enorm. Aber auch die Chancen für die Rüstungsindustrien in Russland, Indien und China sind groß. Es gibt also eine Wirtschaft, die auf der Fortsetzung eines Krieges in der Ukraine basiert, der eines Tages durch Verhandlungen beendet werden muss. Und dann gibt es andere Konflikte wie in Palästina, im Sudan, Kongo und Jemen.

Viele von Israel im Gazakrieg eingesetzte Waffen kommen direkt aus dem Westen.

Ja, genau. Wir arbeiten als »Peace and Justice Project« eng mit der Palästina-Solidaritätskampagne und vielen anderen Organisationen in Großbritannien zusammen und haben bis zu einer Million Menschen an einem Tag mobilisiert, um das palästinensische Volk zu unterstützen. Wir fordern nicht nur einen Waffenstillstand, sondern auch das Ende der Waffengeschäfte zwischen Großbritannien und der israelischen Regierung sowie den Abzug der Besatzungstruppen sowohl aus Gaza als auch aus dem Westjordanland. Israel hat seine militärischen Aktivitäten im Westjordanland verstärkt, und mir scheint, dass die extreme israelische Rechte, die die vollständige Annexion von Palästina anstrebt, die Oberhand gewinnt.

Sehen Sie eine Verbindung zwischen diesen Kriegen und dem, was gerade in Venezuela bezüglich der Nichtanerkennung des Wahlergebnisses durch die USA und ihre Verbündeten passiert?

Die Verbindung besteht darin, dass die NATO auf der Konferenz von Lissabon im Jahr 2006 beschlossen hat, eine globale Rolle zu spielen. Die NATO-Beteiligung an Militärberatung und anderen Aktivitäten weltweit, auch in Westafrika, ist enorm. Es geht der NATO eindeutig darum, die Symbole einer anderen Art des Wirtschaftens in Lateinamerika zu attackieren. Daher erfolgten die Angriffe auf Bolivien, auf Peru, als es dort einen linken Präsidenten gab, auf Präsident Lula da Silva in Brasilien und natürlich auf Kuba und Venezuela.

Was bedeutet es, dass die deutsche Regierung jetzt Geflüchtete nach Afghanistan zurückschickt?

Die europäischen Regierungen haben eine immer schlechtere Bilanz im Umgang mit Flüchtlingen und Asylbewerbern. Die Menschen in Calais, die versuchen, den Ärmelkanal zu überqueren, um nach Großbritannien zu gelangen, die Menschen in Libyen, die versuchen, nach Italien zu gelangen, die Menschen in der Türkei, die versuchen, nach Griechenland zu gelangen, sind fast alle Opfer von Krieg oder Umweltkatastrophen.

Die Abschiebungen nach Afghanistan sind außergewöhnlich, denn das Land erfüllt keine der globalen humanitären Anforderungen nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, der Konventionen über die Rechte des Kindes, der Beijing-Erklärung oder der Istanbul-Konvention über die Rechte der Frauen. Es gibt also keine Grundlage, jemanden nach Afghanistan zurückzuschicken. Es handelt sich einfach um einen Akt der Aggression gegen Menschen, die verzweifelt Asyl suchen.

Zu Recht wurden die ukrainischen Flüchtlinge in ganz Westeuropa unterstützt und aufgenommen. Doch dasselbe gilt nicht für palästinensische oder afghanische Flüchtlinge oder Menschen, die aus Libyen oder Syrien oder einem anderen Konfliktgebiet wie Eritrea, Äthiopien und Westafrika kommen. Es gibt offenbar eine rassistische Agenda in Westeuropa, die definiert, welche Flüchtlinge akzeptabel sind und welche nicht. Dies schürt natürlich den Aufstieg der extremen Rechten in Europa.

In Großbritannien gab es im August tagelange rassistische Unruhen. Was war der Hintergrund?

In Southport im Nordwesten Englands wurden drei Kinder in einer Tanzschule ermordet. In sozialen Medien wurde behauptet, der Täter sei ein Asylsuchender. In Wahrheit wurde er in Großbritannien geboren, was das Verbrechen natürlich nicht weniger schwerwiegend macht. Doch in der Folge gingen Tommy Robinson und die extreme Rechte auf die Straße, sie griffen Moscheen an und insbesondere muslimische Frauen, die Schleier trugen. Die Reaktion der antirassistischen Bewegung war sehr schnell und sehr gut organisiert. Wir machten Kundgebungen in der ganzen Region. Ich selbst sprach auf einer Solidaritätsdemonstration vor unserer größten Moschee. Aber es geht nicht nur darum, sich gegen Rassismus auszusprechen; wir müssen vielmehr den Nährboden erkennen, aus dem die Wut der extremen Rechten entspringt.

Sie machen die Flüchtlinge verantwortlich für den Wohnungsmangel, fehlende Schulplätze, die Wartelisten in Krankenhäusern und wachsende Armut unter Arbeitern. Während deren Lebensstandard durch Sparmaßnahmen in den letzten zehn Jahren um 20 Prozent gesunken ist, sind die Reichen immer reicher geworden. Die extreme Rechte spricht nicht die politischen Ursachen der Armut an, sondern versucht Minderheiten die Schuld zu geben, wie es die Nazis in Deutschland taten. Eine politische Antwort der Linken ist wichtig: Wir müssen die wirtschaftliche Macht und Ungleichheit in unserer Gesellschaft durch die Solidarität der Arbeiterklasse in Frage stellen. Arbeiter haben Klasse, nicht Farbe. Sie haben alle Farben.

Die Spaltung der Arbeiterklasse gehört zum Kapitalismus. Sehen Sie denn eine Alternative?

Natürlich, ich bin Sozialist. Zu einer Alternative gehören Forderungen nach einer universellen Gesundheitsversorgung, Wohnraum und Bildung. Statt einer auf Wettbewerb basierenden Auslese, die die Ambitionen einer großen Zahl von Jugendlichen aus der Arbeiterklasse verwirft, gilt es anzuerkennen, dass jedes Kind in der Schule ein wertvoller Mensch ist. Es geht auch um die Gewerkschaftsmitgliedschaft und um öffentliches Eigentum an der grundlegenden Daseinsvorsorge.

Was antworten Sie solchen Linken, die jetzt ihre Hoffnung auf Kamala Harris in den USA setzen?

Ich bin weder ein Anhänger von Trump noch ein Bewunderer der US-Demokraten. Denn diese haben die schrecklichsten Angriffe auf Flüchtlinge und Migranten in den USA zu verantworten. Unter Joseph Biden und Barack Obama wurden mehr Migranten – Mexikaner, Guatemalteken und andere Menschen aus der Arbeiterklasse – abgeschoben als unter jedem anderen Präsidenten. Eine Niederlage von Donald Trump würde mich und viele andere sehr glücklich machen. Aber ich würde es bevorzugen, wenn es eine stärkere Alternative aus der Arbeiterklasse in den USA gäbe und nicht nur zwei Unternehmerparteien, die im wesentlichen dieselbe wirtschaftliche Botschaft vermitteln.

Schauen wir nach Mexiko. Vor welchen Herausforderungen steht die im Juni neugewählte linke Präsidentin Claudia Sheinbaum?

Vor riesigen Herausforderungen. Sheinbaum war eine sehr effektive Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt. Ich habe sie getroffen und lange mit ihr diskutiert, und ich denke, sie wird den Weg der sozialen Gerechtigkeit in Mexiko fortsetzen. Ihre Morena-Partei ist landesweit in jedem Dorf und jeder Stadt organisiert und hat es geschafft, eine Mehrheit der Stimmen und eine enorme parlamentarische Mehrheit zu gewinnen. Vor allem hoffe ich, dass nun das groteske Ungleichheitsniveaus in Mexiko in Frage gestellt wird. Es wurden bereits große Fortschritte gemacht, insbesondere in den Bereichen Bildung und Gesundheit, aber das Land hat noch einen langen Weg vor sich.

Bei den britischen Unterhauswahlen im Juli wurden die Konservativen nach 14 Jahren an der Regierung endlich abgewählt. Was erwarten Sie von der Labour-Regierung unter Keir Starmer?

Ich kandidierte zum ersten Mal als Unabhängiger, weil die Labour-Partei sich weigerte, meinen Namen überhaupt als Kandidaten in Betracht zu ziehen … und wir gewannen. Mein Wahlmanifest drehte sich um Frieden, um die Forderungen nach Abschaffung von Atomwaffen und das Ende des Waffenverkaufs an Israel, um öffentliches Eigentum und die Umverteilung von Reichtum und Macht. Das sind Prinzipien, die ich in unser früheres Wahlprogramm der Labour-Partei aufgenommen hatte. Wir gewannen mit 50 Prozent der Stimmen in meinem Wahlkreis. Ich bin sehr stolz auf dieses Ergebnis, denn es war der Erfolg von Menschen, die sich für den Wahlkampf engagiert haben. Das landesweite Wahlergebnis der Labour-Partei lag bei diesen Wahlen unter dem von 2019, und die Partei erhielt drei Millionen Stimmen weniger, als wir 2017 gewonnen hatten. Nach ihrem Amtsantritt hat die Starmer-Regierung mehr Sparmaßnahmen und die Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf 2,5 Prozent angekündigt. Das ist kein guter Anfang, und ich vermute, dass dies die Quelle eines großen Konflikts sein wird. Ich wäre gerne optimistisch. Leider bin ich es nicht.

Jeremy Corbyn (geb. 1949) ist seit vielen Jahrzehnten als Friedensaktivist sowie in der internationalen Solidaritätsarbeit aktiv. Er vertritt seit 1983 den Londoner Wahlkreis Islington Nord im britischen Unterhaus. Von 2015 bis 2020 war der bekennende demokratische Sozialist Parteivorsitzender der Labour-Partei, die in dieser Zeit einen starken Mitgliederzuwachs verzeichnen konnte. Sein Nachfolger wurde Keir Starmer, der die Partei wieder auf einen NATO- und kapitalfreundlichen Kurs brachte. Bei den Unterhauswahlen im Juli 2024 gewann Corbyn den Wahlkreis Islington Nord als unabhängiger Kandidat vor dem Labour-Kandidaten. Corbyn ist Kovorsitzender des 2021 von ihm initiierten Friedens- und Gerechtigkeitsprojekts (»Peace and Justice Project«), das den Anspruch hat, Aktivisten, Arbeitervereinigungen und soziale Bewegungen im Vereinigten Königreich und international im Kampf für soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit, Frieden und Menschenrechte zusammenzubringen. Heute zählt die Bewegung 60.000 Unterstützer.

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