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Aus: Ausgabe vom 07.09.2024, Seite 8 / Inland
Friedensforschung

»Die Dominanz der Politiker ist gesichert«

Über die Militarisierung und Probleme der Friedensforschung. Ein Gespräch mit Werner Ruf
Interview: Milan Nowak
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Protest gegen Faschismus und Krieg (Nürnberg, 20.4.2024)

Sie unterstützen den Aufruf zur bundesweiten Friedensdemonstration »Nie wieder Krieg!« am 3. Oktober in Berlin. Was bewegt Sie dazu?

Was ich sage, mag dramatisch klingen. Dramatisch sind allerdings die Zeiten, in denen wir leben. Wir erleben derzeit die Einstimmung auf ein neues Zeitalter der Kriegführung. Nur drei Tage nach dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine erklärte Bundeskanzler Scholz eine »Zeitenwende«, nach der die Welt nicht mehr dieselbe sei. 100 Milliarden Euro stellte er für Rüstungsausgaben zur Verfügung. Der »normale« Rüstungshaushalt sollte schnellstens auf mindestens zwei Prozent des Bruttosozialprodukts steigen. Die Regierung bläst zu Krieg und Konflikt: Die Außenministerin will »Russland ruinieren«, der Verteidigungsminister Deutschland wieder »kriegsfähig machen«. Neue Raketen sollen in Deutschland stationiert werden, die atomar bewaffnet werden können und die Vorwarnzeiten auf wenige Minuten reduzieren. Dank künstlicher Intelligenz erfolgt die Entscheidung über den Atomkrieg fast vollautomatisch.

Vor gut 30 Jahren erlebten wir eine Phase der Entspannung und Rüstungskontrolle. Sie basierte auf dem Prinzip: Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates untrennbar mit der aller anderen verbunden. Nur, wenn sich jeder sicher fühlt, ist die Sicherheit aller gewährleistet. Doch wenig später startete die NATO den Prozess ihrer Osterweiterung – von 16 Mitgliedern wuchs die Zahl auf derzeit 36, fast alle in Osteuropa. Dort werden jährlich Großmanöver mit bis zu 50.000 Mann abgehalten.

Als langjähriger Friedensforscher kritisieren Sie die Entwicklung Ihrer Disziplin. Worin sehen Sie Probleme?

Zunächst in der Durchsetzung neoliberaler Prinzipien: Die staatliche Finanzierung der Forschung von Universitäten wurde ausgelagert an den Markt, privatisiert. Seitdem kämpfen Wissenschaftler um Drittmittel, also Forschungsfinanzierung durch Unternehmen, Stiftungen und die öffentliche Hand. So wird Wissenschaft zur Auftragsforschung, sie begibt sich in direkte Abhängigkeit der Geldgeber.

In ihren Anfängen in den 70er Jahren hatte sich die Friedensforschung eine staatliche Finanzierung erkämpft, die sie selbst verwaltete. Aber unter Führung von Bayern und Baden-Württemberg traten die Länder aus diesem System aus. Es blieben die Deutsche Forschungsgemeinschaft und der Markt. Die eta­blierten Forschungsinstitute sind alle sogenannte An-Institute. Sie sind an Universitäten angesiedelt, müssen sich jedoch selbst finanzieren. Das Geld kommt großteils vom Auswärtigen Amt, dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und dem Verteidigungsministerium. Eine nicht unerhebliche Finanzierung erfolgt über das Ministerium für Bildung und Forschung. Dieses stellt der dafür geschaffenen Deutschen Stiftung Friedensforschung ihren Haushalt zur Verfügung, über die Friedensforscher Anträge auf Projektförderung stellen können. Im zwölfköpfigen Stiftungsrat sitzen fünf Wissenschaftler, vier Vertreter der Bundesregierung und drei Mitglieder des Bundestags. Die Dominanz der Politiker ist gesichert.

Forschungsentscheidungen fallen jedoch schon früher: Die Schere im Kopf der Wissenschaftler sorgt dafür, dass ihre Empfehlungen nicht konträr zur offiziellen Politik ausfallen. So empfahl das Friedensgutachten 2022 kurz nach Beginn des Krieges in der Ukraine, »die Kosten des Krieges für Russland durch militärische Unterstützung der Ukraine hochzutreiben«, obgleich auch für die Suche nach diplomatischen Auswegen plädiert wurde.

Was müsste die Friedensforschung tun, um gesellschaftlich wieder relevant zu werden?

Friedensforschung ist Teil der kritischen Sozialwissenschaften. Sie muss nach den strukturellen Ursachen von Gewalt in und zwischen Gesellschaften und Staaten fragen. Sie muss sich wieder als wissenschaftlicher Teil der Friedensbewegung verstehen und ihre aufgeworfenen Fragen handlungsorientiert behandeln.

Werner Ruf ist emeritierter Professor für Internationale Politik der Universität Kassel

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