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Aus: Ausgabe vom 07.09.2024, Seite 15 / Geschichte
Geschichte der Bundesrepublik

Bonn tagt

Vor 75 Jahren trat der Bundestag zu seiner ersten Sitzung zusammen
Von Ronald Weber
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Der Weststaat steht (Bonn, 7.9.1949)

Am Ende musste alles sehr schnell gehen. Die Renovierungsarbeiten sollten pünktlich abgeschlossen werden. Am 8. Mai 1949 hatte der in Bonn versammelte Parlamentarische Rat die Arbeit am Grundgesetz beendet. Zwei Tage später beschlossen die Abgeordneten, die von den verschiedenen Landesparlamenten der drei westlichen Besatzungszonen gewählt worden waren, dass der erste Bundestag am 7. September ebenfalls in Bonn zusammentreten sollte. Als Tagungsort wurde die ehemalige Pädagogische Akademie bestimmt, die nun eilends umgebaut wurde. Da die Entscheidung umstritten war – die SPD befürwortete einen Umzug nach Frankfurt am Main –, war den Organisatoren daran gelegen, den 402 neuen Abgeordneten die Universitätsstadt am Rhein besonders schmackhaft zu machen. Die unumstrittene Führungsfigur der Christdemokraten, Konrad Adenauer, drängte die Verwaltung daher darauf, den Abgeordneten bei allen Fragen entgegenzukommen und nur ja genügend preiswerte Hotelzimmer bereitzu­halten.

Separatstaat

Mit der Konstituierung von Bundestag und Bundesrat, der am selben Tag zum ersten Mal zusammentrat, war die Gründung der Bundesrepublik als deutscher Separatstaat vollzogen. Die Entwicklung war seit dem Zusammenschluss der US-amerikanischen und der britischen Besatzungszone zur »Bizone« Anfang 1947 absehbar gewesen. Die Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion, bald mit dem Schlagwort des Kalten Krieges benannt, schlug voll auf die deutsche Nachkriegssituation durch. Im Februar 1948 war die Londoner Sechsmächtekonferenz zusammengetreten, eine Beratung der Außenminister der Westalliierten sowie der Beneluxstaaten, zu der die Sowjetunion nicht eingeladen war. Hier wurden – ungeachtet des Protests der sowjetischen Vertreter, die daraufhin den Alliierten Kontrollrat, das nun an den Rand gedrängte eigentliche oberste Regierungsorgan, verließen – die Grundlagen für die Bundesrepublik gelegt: Im April 1948 trat die französische Besatzungszone der britisch-US-amerikanischen Bizone bei, im Juni erfolgte in der »Trizone« eine Währungsreform (siehe jW vom 17.6.2023), die die Sparer enteignete und zu einem Anstieg der Preise führte, im September trat schließlich der Parlamentarische Rat zusammen, der das Grundgesetz ausarbeitete. Mit dessen Verabschiedung am 23. Mai 1949 wurde die Bundesrepublik offiziell gegründet, deren Souveränität durch das Besatzungsstatut der Westalliierten freilich eingeschränkt blieb. Die Wahlen zum ersten Bundestag wurden auf den 14. August gelegt.

Der Wahlkampf war durch eine direkte Konfrontation zwischen Konrad Adenauers CDU und der von Kurt Schumacher geführten SPD gekennzeichnet. Soziale Marktwirtschaft auf der einen, Sozialisierung und Wirtschaftslenkung auf der anderen Seite, lauteten die Schlagworte. Während die CDU auf eine »europäische Integration« setzte, betonte die SPD die nationale Einheit. Mit der Gründung der BRD fand sie sich trotzdem ab, zumal die stramm antikommunistische SPD-Führung jedes Angebot zur Zusammenarbeit seitens der SED ablehnte. Der »Kommunismus« jenseits der Elbe war ohnehin der große gemeinsame Feind nahezu aller Parteien, die sich in antikommunistischer Demagogie, die mitunter an die Zeit vor 1945 erinnerte, überboten.

Sieger der Wahlen wurde die CDU (31 Prozent). Die SPD, der eigentliche Favorit, unterlag knapp (29,2 Prozent). Erstaunlich erfolgreich schnitten die betont national auftretenden Liberalen ab (11,9 Prozent), die gemeinsam mit der CDU und der in den nördlichen Bundesländern stark verankerten, stramm rechten Deutschen Partei (vier Prozent) künftig die Regierung stellten. Enttäuschend war hingegen das Ergebnis der KPD, der einzigen politischen Kraft, die sich konsequent gegen die Industriedemontagen, das Besatzungs- und das Ruhrstatut, das die Aufsicht über die Kohle- und Stahlindustrie an der Ruhr in die Hände der westlichen Alliierten legte, wie überhaupt gegen die Spaltung des Landes richtete. Sie kam selbst in ihren Hochburgen wie Hamburg nicht über zehn Prozent und erhielt insgesamt nur 5,7 Prozent der Stimmen. Die Orientierung auf die nationale Einheit durch die Bildung einer gesamtdeutschen Regierung fand bei den Wählerinnen und Wählern keinen relevanten Widerhall, wie auch das spätere Scheitern von Gustav Heinemanns neutralistisch ausgerichteter Gesamtdeutscher Volkspartei bei den Wahlen 1953 zeigte.

Rechnungen aufmachen

Die erste Sitzung des Bundestags beschränkte sich im wesentlichen darauf, Erich Köhler (CDU/CSU) zum Präsidenten sowie die weiteren Vizepräsidenten zu wählen und einen vorläufigen Geschäftsordnungsausschuss sowie den Ältestenrat auf den Weg zu bringen. Die von der Presse befürchteten Konfrontationen, die den Wahlkampf gekennzeichneten hatten, blieben aus. Ganz geräuschlos ging die Sitzung aber doch nicht über die Bühne, streifte sie doch zumindest kurz das Thema, das wie Mehltau auf der frühen Geschichte der BRD lag: die sogenannte Vergangenheitsbewältigung. Der sozialdemokratische Alterspräsident Paul Löbe nutzte seine Eröffnungsansprache, um an Hitlers Ermächtigungsgesetz und an die dem Terror der Nazis zum Opfer gefallenen SPD-Abgeordneten zu erinnern. Sofort setzte von rechts Protest ein, wie das Protokoll vermerkt: »Auch von anderen Parteien sind Opfer gebracht worden; wir wollen keine Rechnungen aufmachen!« Auch die kommunistischen Abgeordneten beschwerten sich, was Löbe zum Anlass nahm, zu bekennen, dass alle Parteien »bis in die Rechtsparteien« hinein Opfer gebracht hätten. Das brachte den erinnerungspolitischen Konsens der frühen BRD ganz gut auf den Punkt, waren nach vorherrschender Meinung doch alle irgendwie Opfer der »Bande von Gangstern« (Kurt Schumacher) gewesen, insbesondere das deutsche Volk, das »unter den Fußtritten der eigenen Tyrannen« gelitten habe, wie Löbe ausführte.

Zumindest 57 der neuen Abgeordneten dürften allerdings weniger gelitten haben, denn sie waren Mitglieder der NSDAP und anderer Naziorganisationen gewesen, aber sämtlich als »entlastet« eingestuft worden – bis auf Wolfgang Hedler (DP), der seinen Entnazifizierungsnachweis gefälscht hatte. Hinzu kam ein weiterer »ehemaliger« Nazi, der Abgeordnete der Deutschen Konservativen Partei – Deutsche Rechtspartei Fritz Rößler, der als Franz Richter unter falschem Namen im Bundestag saß. Rößler war einer von Zehntausenden »Braun-Schweigern«, wie der Volksmund die untergetauchten Nazis nannte. Der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder in Bonn wurde dann im Laufe der Jahre immer höher und erreichte schließlich in der vierten Wahlperiode zwischen 1961 und 1965 mit 129 von 499 Volksvertretern seinen Höhepunkt, darunter Abgeordnete von CDU/CSU und FDP, aber auch der SPD.

Letztere, in deren Reihen sich im Vergleich zu allen anderen Parteien außer der KPD tatsächlich eine ganze Reihe von Widerstandskämpfern befanden, setzte wie die übrigen bürgerlichen Parteien auf eine Reintegration der durchweg als »irregeleitet« aufgefassten »Mitläufer«. Das 1951 beschlossene 131er-Gesetz, das die Rechtsverhältnisse von Beamten, die nach der Befreiung vom Faschismus entlassen worden waren, regelte und zu einer regelrechten Renazifizierung des öffentlichen Dienstes führte (während der Adenauer-Erlass von 1950 Angehörige von KPD und anderen linken Organisationen mit Berufsverbot belegte), fand wie selbstverständlich die Zustimmung der Sozialdemokraten. »Schluss mit Entnazifizierung!« hatte die FDP im Wahlkampf plakatiert. In dieser Hinsicht war man sich einig. Kurt Schumacher ging sogar so weit, sich für ein Ende der sozialpolitischen Benachteiligung von ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS zu engagieren.

Ende der Demontagen

Nur am Rande gestreift wurden bei der ersten Zusammenkunft des Bundestags auch die Industriedemontagen der Alliierten. Der Kontrollrat hatte 1946 beschlossen, die deutsche Industrie auf den Stand von 1932 zurechtzustutzen. Die Demontagen waren von Beginn an auf den Widerstand auch der Arbeiterbewegung gestoßen, zumal die Zahl der Arbeitslosen stieg und 1950 den Wert von zwei Millionen erreichte. Der KPD-Abgeordnete Heinz Renner beantragte am Ende der Sitzung eine Debatte über die sofortige Einstellung der Demontagen, wurde aber von der SPD ausgebremst, die ihrerseits einen Antrag vorlegte, der die Westalliierten um eine Überprüfung der Demontagelisten ersuchte. Renner begrüßte das und überließ den Sozialdemokraten »gern die Ehre des Autorenrechts«. Zu einer Debatte kam es dann aber nicht, auch nicht in den nächsten Sitzungen.

Das Thema kam erst am 24. November wieder zur Sprache, allerdings in einem anderen Kontext und unter veränderten Bedingungen. Denn in der Zwischenzeit hatte sich am 7. Oktober in Reaktion auf die »Kolonisierung Westdeutschlands« (Neues Deutschland, 9.9.1949) mit der Deutschen Demokratischen Republik nicht nur ein zweiter deutscher Teilstaat gegründet, der am 20. September zum Bundeskanzler gewählte Adenauer hatte im Namen der Regierung auch das sogenannte Petersburger Abkommen unterzeichnet. Das sah zwar ein Ende bzw. eine Reduzierung der Demontagen vor, aber eben auch den Beitritt zum Ruhrstatut und die Integration der BRD in die Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit, die die Verteilung der Marshallplangelder in Europa koordinierte. Der KPD-Abgeordnete Walter Fisch bezeichnete den Abbruch der Demontagen deshalb als eine lediglich »kurze Freude«. Man werde noch die Rechnung präsentiert bekommen. Die kam dann bald mit der Wiederbewaffnung.

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