In Gänze schutzlos
Von Arnold SchölzelUnter dem Titel »Es droht ein Nuklearkrieg in Europa. Die USA verlagern mit ihren Raketen Sicherheitsrisiken auf Deutschland« analysiert Brigadegeneral a. D. Erich Vad in einem Gastbeitrag für die Berliner Zeitung am Donnerstag die Konsequenzen, die sich aus der Stationierung weitreichender US-Waffen in Deutschland ergeben. Inzwischen veröffentlichte auch die Schweizer Weltwoche den Text. Die wichtigsten Folgen der Stationierung sind in Schlag- und Unterzeile genannt. Was die amtierende Bundesregierung leitet, erörtert Vad nicht. Die Wähler in Thüringen und Sachsen hat die Frage stark beschäftigt, in großen Medien kommt sie dennoch oder gerade deswegen so gut wie nicht vor. Missachtung von Mehrheitsmeinung und Interessen gehört zum realen politischen Rechtsruck.
Vad beschreibt das im ersten Satz: »Medial kaum kritisch gewürdigt und ohne öffentliche Diskussion vereinbarten die Regierung der USA und die deutsche Bundesregierung am Rande des NATO-Gipfels am 10. Juli 2024, ab 2026 Raketen, Marschflugkörper und Überschallwaffen mit Reichweiten zwischen 460 und 3.000 Kilometern in Deutschland aufzustellen.« Öffentlich, aber ohne Diskussion, äußerte das SPD-Präsidium am 12. August: »Als SPD übernehmen wir Verantwortung dafür, dass kein Kind, das heute in Deutschland geboren wird, wieder Krieg erleben muss.« Die Stationierungsvereinbarung sei »dafür ein wichtiger Baustein«.
Vad hält demgegenüber fest, es gehe »vor allem darum, den USA im Kriegsfall aus Deutschland heraus den Einsatz von Waffensystemen zu ermöglichen, mit denen sie mit minimalen Flugzeiten der Geschosse in die Tiefe Russlands zur Neutralisierung entsprechender russischer Basen wirken können, ohne dass sich die USA selbst gefährden.« Im schlimmsten Fall werde damit »ein auf Europa beschränkter Nuklearkrieg möglich«. Russland werde mit weiterer Stationierung reagieren, damit beginne »zwangsläufig eine Aufrüstungsspirale mit Deutschland als Zentrum«. Da die Bundesrepublik im Kriegsfall Aufmarschgebiet und logistische Plattform der NATO wäre, »wird die in Gänze schutzlose deutsche Bevölkerung einem sehr hohen Risiko ausgesetzt, ohne dass sie dazu selbst gefragt wird«.
Vad weist darauf hin, dass das beim NATO-Nachrüstungsbeschluss 1979 »noch ganz anders« war: Die Stationierung fand nicht nur in einem Land statt, wurde NATO-intern, öffentlich und im Bundestag ausführlich diskutiert und schließlich verwirklicht »im aus deutscher Sicht unverzichtbaren Verbund mit Diplomatie, Dialog und deeskalierenden Abrüstungs- und Rüstungskontrollmaßnahmen«. Die »Schwachpunkte« jetzt: keine NATO-Entscheidung, sondern eine bilaterale Vereinbarung, im Kriegsfall unterliege die Stationierung »nicht einer souveränen, nationalen Entscheidungsmacht. Zumindest ist das in der Erklärung nicht geregelt.« Sie ermögliche »gerade mit Blick auf die Hyperschallwaffen eine Überraschungsoption gegenüber Russland, die im Kriegsfall zu unkontrollierbaren Fehlperzeptionen und Gegenaktionen führen könnte, die ausschließlich unser Land betreffen würden«. Verbindung mit Abrüstungsangeboten? Null. Austausch mit Russland? Null. Vad meint, mit der ab Herbst 2024 neuen US-Administration müsse über ein INF-Nachfolgeabkommen, also ein Verbot von Mittelstreckenraketen, gesprochen werden, das aus europäischer Sicht unverzichtbar »für unsere Sicherheit« sei.
Seine Analyse besagt aber: Das ist nicht vorgesehen. Jeder Anflug von Souveränität und jeder Hauch der Berücksichtigung von Interessen der Bevölkerung wurde mit dem Diktat von Washington am 10. Juli ausgeschlossen. Demokratie ist von Kriegsparteien nicht zu haben.
Jeder Anflug von Souveränität und jeder Hauch der Berücksichtigung von Interessen der Bevölkerung wurde mit dem Diktat von Washington am 10. Juli ausgeschlossen. Demokratie ist von Kriegsparteien nicht zu haben.
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