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Aus: Ausgabe vom 07.09.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Über die Entsorgung von Klassikern

Zwei Kant-Kongresse und die ewig aktuelle Maßgabe »Was nicht passt, wird passend gemacht«
Von Peter Schulz
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Statue vor der Baltischen Föderalen Immanuel-Kant-Universität

Bundeskanzler Olaf Scholz mutmaßte beim Festakt zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant am 22. April 2024 in Berlin: »Vorgesehen war auch ein großer internationaler Kongress, der eigentlich jetzt, in diesen Tagen, in Kaliningrad stattfinden sollte.«

Ich kann bestätigen, dass dieser große internationale Kant-Kongress vom 22. bis 25. April 2024 in der Geburtsstadt des Philosophen stattfand – ich nahm an diesem Kongress, dem die Überschrift »Der Weltbegriff der Philosophie« gegeben wurde, teil. Das Kongressthema selbst ist einer Anmerkung aus der »Kritik der reinen Vernunft« entnommen worden: »Weltbegriff heißt hier derjenige, der das betrifft, was jedermann notwendig interessiert …«¹

*

Ich besuchte am vierten Tag das Institut für Bildung und Geisteswissenschaften der Immanuel-Kant-Universität in der Tschernyschewski-Straße 56 A. Im Saal »Aquarium« wurden Vorträge zum Thema »Kants Ethik und die Moralphilosophie der Gegenwart« gehalten. Wer dahinter verstaubte Moralpredigten vermutete, lag natürlich falsch. Es ging um hochaktuelle Themen.

Als erster Redner trat Professor Reinhard Hesse an das Pult, um über »Leistungen und Mängel von Kants Philosophie im Lichte der gegenwärtigen Situation der Menschheit« zu referieren. Als deutscher Professor wurde er selbst schon im Vorfeld gemobbt, so in einem Beitrag von Christian Neef »Wie Kant zum Russen wird« in Zeit Geschichte: »Auch Reinhard Hesse, einst Lehrstuh­linhaber in Freiburg, sprach von einem ›katastrophalen Irrweg‹ und fragt auf einer Website, die seit Jahren Verschwörungstheorien verbreitet, wie man sich in Deutschland noch auf Kant berufen könne, wenn man in Kriegszeiten das Gespräch mit Russland ­einstelle.« ²

Danach sprach Professor Gary Legenhausen, ein US-amerikanischer Philosoph, der zum Islam konvertierte und seit 1990 im Iran lebt, über »Kants Ethik und die Grenzen der Gültigkeit des a priori« (d. h. also völlig unabhängig von aller Erfahrung). Ich tauschte später mit ihm Gedanken aus. In diesem Gespräch äußerte er sich z. B. auch zur Irrationalität von Nuklearplanungen, die ich dem Leser nicht vorenthalten will: »Die nukleare Planung beinhaltet mehrere Ebenen der Irrationalität. Erstens gibt es die irrationale Angst, dass diejenigen, die wir als Feinde wahrnehmen, noch irrationaler sind, als wir uns selbst einschätzen. Dann die irrationale Vorstellung, dass wir sie abhalten können, irrationale Maßnahmen zu ergreifen, indem wir ihnen mit unseren eigenen irrationalen Maßnahmen drohen. Und dann ist da noch die Irrationalität, nicht zu bedenken, was die Folgen solcher Maßnahmen sein würden. All dies findet auf der Ebene der Vorsicht statt, ohne Moral und Recht zu berücksichtigen. Die Irrationalität auf den Ebenen der Vernunft, Legalität und Moral wird teuflisch, weil sie die Betroffenen blind macht für die von ihr betroffenen Menschen, blind macht für die Gebote, die unsere Maxime bei umsichtigen, rechtlichen und moralischen Entscheidungen sein sollten.«³

Im Beitrag von Daniela Mosalewskaja über »Kants ethisches Erbe im Lichte der zeitgenössischen Moralphilosophie und der Dynamik der digitalen Gesellschaft« spürte man, dass sie als Dozentin an der Belarussischen Staatlichen Universität für Informatik und Radioelektronik lehrt. Unter anderem zeigte sie eine Folie zu Umfrageergebnissen an ihrer Universität. Bei der Frage »Welche Formen der Kontrolle der Einhaltung des Moralkodex der Universität sind am effektivsten?« waren sich die befragten Studenten und Mitarbeiter einig, dass die Selbstkontrolle an erster Stelle stehe. Unter den Antworten auf die Frage »Welche neuen Probleme entstehen im modernen Internet?« wurden am häufigsten Formen aggressiven Verhaltens wie Mobbing (Cybermobbing) und Trolling genannt. Anonymität als bequeme Situation für Beleidigungen und Erniedrigungen gibt Anlass zur Sorge.

Auch »Auschwitz: einige Fragen an I. Kant« beschäftigte die Zuhörer. Mir ist der Vortrag deshalb im Gedächtnis geblieben, weil im Auditorium ein junger Mann aufstand und behauptete, dass sich bisher kein deutscher Philosoph mit der Auschwitz-Problematik beschäftigt habe. Ich fragte noch eine junge Frau, die in meiner Nähe saß, ob ich das richtig verstanden hätte. Für mich war es Anlass genug, meine Meinung im Auditorium kundzutun. Ich erinnerte daran, dass z. B. die deutsche Philosophin Hannah Arendt beim Eichmann-Prozess in Jerusalem dabei war und darüber geschrieben hatte.

Übrigens war die von mir befragte junge Frau die nächste Rednerin – Jelisaweta Kaprizkaja. Im letzten Jahr war sie noch Beststudentin an der Lumumba-Universität für Völkerfreundschaft in Moskau. Sie besprach »das Problem der Lüge in der kantschen Philosophie«. Bekanntlich war Kant da ja sehr rigoros.

Ein letzter Vortrag, den ich erwähnen möchte, hieß »Kantsches moralisches Handeln und künstliche Intelligenz«, gehalten von Xenia Silber, anscheinend noch eine Studentin aus Kaliningrad. Im Mittelpunkt ihrer Ausführungen stand die Beiordnung eines moralischen Agenten in den KI-Technologien. Gerade angesichts der Anwendung des KI-Zielerkennungssystems »Lavender« im Gazastreifen, muss darüber nachgedacht werden.

*

Ich konnte einige Kongressteilnehmer befragen, warum sie die Strapazen auf sich genommen hatten, um in Kaliningrad dabei zu sein. Man nannte mir als Motiv, dass der mehrfach geäußerte Satz von Bundeskanzler Olaf Scholz »(…) deshalb hat Putin nicht die geringste Berechtigung, sich auf Kant zu berufen« sie dazu bewegt habe. Gerade die Kanzlerrede vom 22. April 2024 zeigt auf, wie er oder wohl besser sein Redenschreiber Kant für sich umdeuten. Ich möchte das an drei Beispielen aus seiner Rede⁴ aufzeigen.

1. »Ausgerechnet Kant, für den doch der Friede das ›höchste Gut‹ überhaupt war (…)«

Diese Aussage ist schlichtweg falsch, sie lässt sich bei Kant nicht belegen. Für Kant bestand das höchste Gut in folgendem: »Ich nenne die Idee einer solchen Intelligenz, in welcher der moralisch vollkommenste Wille, mit der höchsten Seligkeit verbunden, die Ursache aller Glückseligkeit in der Welt ist, sofern sie mit der Sittlichkeit (als der Würdigkeit, glücklich zu sein) in genauem Verhältnisse steht, das Ideal des höchsten Guts.«⁵

2. »Für Kant stand fest: ›Der Friedenszustand (…) ist kein natürlicher Zustand, der vielmehr ein Zustand des Krieges ist. (…) Er muss also gestiftet werden.‹ Gestiftet, gehütet, organisiert, immer neu gesichert und notfalls wiederhergestellt und zwar immer mit den Mitteln des Rechts und der Politik, welche Kant ausdrücklich als ›ausübende Rechtslehre‹ verstand.«

Man sollte diesen Kantschen Gedanken nicht verfälschen. Für ihn stand fest: »Er muss also gestiftet werden; denn die Unterlassung der letzteren ist noch nicht Sicherheit dafür, und, ohne dass sie einem Nachbar von dem andern geleistet wird (welches aber nur in einem gesetzlichen Zustande geschehen kann), kann jener diesen, welchen er dazu aufgefordert hat, als einen Feind behandeln.«⁶ Es ging ihm also um den Grundsatz gutnachbarlicher Beziehungen!

Übrigens stand der Gedanke mit der ausübenden Rechtslehre – wenn auch in einem ganz anderen Zusammenhang – erst im Anhang seiner Druckschrift. Die Stiftung des Friedens finden wir am Anfang. Bei einer solchen Argumentation muss ich immer an einen Satz von George Orwell denken: »Macht heißt, einen menschlichen Geist in Stücke zu reißen und ihn nach eigenem Gutdünken wieder in neuer Form zusammenzusetzen.«⁷

3. »Schon Kant kritisierte hellsichtig die ungute Angewohnheit, ›böse Absichten an anderen zu erklügeln‹.«

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Internationaler Kant-Kongress in Kaliningrad (22.4.2024)

Sehen wir uns dazu Kants Schrift genauer an: »Diese Afterpolitik hat nun ihre Kasuistik, trotz der besten Jesuiterschule – die reservatio mentalis: in Abfassung öffentlicher Verträge, mit solchen Ausdrücken, die man gelegentlich zu seinem Vorteil auslegen kann, wie man will (z. B. den Unterschied des Status quo de fait und de droit); – den Probabilismus: böse Absichten an anderen zu erklügeln, oder auch Wahrscheinlichkeiten ihres möglichen Übergewichts zum Rechtsgrunde der Untergrabung anderer friedlicher Staaten zu machen …«⁸ Diese Ausführungen fallen auch auf die deutsche Afterpolitik zurück. Zur Erinnerung seien der Luftkrieg gegen Serbien 1999, Minsk II (Zeitgewinnung für die Ukraine), die NATO-Osterweiterung oder die Verletzung des Zwei-plus-vier-Vertrags genannt.

*

Vom 8. bis 13. September 2024 findet nun in Bonn ein zweiter internationaler Kant-Kongress statt. Er steht unter dem Motto: Was ist Aufklärung? Kants Aussage ist klar und deutlich: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.«⁹ Möge dieser Kongress auch die Frage beantworten: Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter (seit der Zeitenwende)? Wenn ja, woran kann man das festmachen? Wenn nein, warum ist das im 21. Jahrhundert so?

Arseni Gulyga, der als Mitzwanziger bis Ende 1947 Abteilungsleiter für Kunst in der Verwaltung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) war, äußerte sich zur Kantschen Lehre folgendermaßen: »Jede neue Lehre erlebt, nach Kant, drei Etappen. Zuerst wird sie nicht bemerkt, dann wird sie abgelehnt und schließlich begibt man sich daran, sie ›nachzubessern‹, indem man sie den eigenen Interessen anpasst.«¹⁰

Gegenüber der Parkbank befindet sich das Schiff der kosmischen Flotte Kosmonaut Pazajew, ein Grund mehr Kant zu zitieren:

»Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.«¹¹

Anmerkungen:

1 Immanuel Kant: Werke Bd. 4, Kritik der reinen Vernunft. Darmstadt 1956, S. 701

2 Zeit Geschichte 300 Jahre Kant, 26.1.2024, S. 115

3 Aus der E-Mail von G. Legenhausen an P. Schulz vom 14.5.2024

4 https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/reden/rede-von-bundeskanzler-scholz-beim-festakt-zum-300-geburtstag-von-immanuel-kant-am-22-april-2024-in-berlin-2272896

5 Immanuel Kant: Werke Bd. 4, Kritik der reinen Vernunft. Darmstadt 1956, S. 680

6 Immanuel Kant: Werke Bd. 9, Zum ewigen Frieden. Darmstadt 1956, S. 202

7 George Orwell: 1984. München 2002, S. 245

8 Immanuel Kant: Werke Bd. 9, Zum ewigen Frieden. Darmstadt 1956, S. 249

9 Immanuel Kant: Werke Bd. 9, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung. Darmstadt 1956, S. 53

10 Arseni Gulyga: Immanuel Kant. Frankfurt am Main 1985, S. 292

11 Immanuel Kant: Werke Bd. 6, Kritik der praktischen Vernunft. Darmstadt 1956, S. 300

Peter Schulz, Jg. 1958, war von 1986 bis 1989 Dozent für Gesellschaftswissenschaften an einem Ausbildungszentrum der DDR. Er ist Rentner und lebt in Berlin.

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