75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Donnerstag, 19. September 2024, Nr. 219
Die junge Welt wird von 2939 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 09.09.2024, Seite 8 / Inland
Wohnungspolitik

»Dieses Vorgehen ist armenfeindlich und rassistisch«

Duisburg: In Marxloh sollten 800 Menschen aus ihren Wohnungen vertrieben werden. Ein Gespräch mit Maik Horn
Interview: Henning von Stoltzenberg
imago0413120351h.jpg

Sie befürchten, dass in den nächsten Tagen bis Mitte September mehrere hundert Menschen in Duisburg-Marxloh ihre Wohnung verlieren. Wie kann das sein?

Ursprünglich sollten Wassersperrungen zwischen dem 6. September und dem 11. Oktober gestaffelt stattfinden. Der Hintergrund dieser Sperrungen sind nicht getätigte Nebenkostenzahlungen durch die Ivere Property Management GmbH, der ehemaligen Hausverwaltung, an die Stadtwerke. Das nimmt die Stadt zum Anlass, um über 50 Häusern in Marxloh das Wasser abzudrehen. Das dann fehlende Wasser wird als Begründung genommen, den dort lebenden Menschen das Weiterbewohnen der Objekte zu untersagen, da eine Wohnung ohne Wasser von der Stadt als nicht bewohnbar bewertet wird. Dass die Menschen ihren Nebenkostenzahlungen an Ivere nachkamen, ist der Stadt egal.

Warum trifft es gerade Bewohner von Marxloh?

Der Stadtverwaltung sind die Menschen in Marxloh ein Dorn im Auge, da diese ihrer Meinung nach Duisburg in ein schlechtes Licht rücken. Dass dieses Vorgehen nicht nur armenfeindlich, sondern auch rassistisch ist, zeigt sich zum Beispiel an einer Aussage des Oberbürgermeisters Sören Link bei einer sogenannten Flüchtlingskonferenz der SPD: »Ich hätte gerne das Doppelte an Syrern, wenn ich dafür ein paar Osteuropäer abgeben könnte.« Mit Osteuropäern sind hier natürlich nicht Ukrainer, sondern Rumänen und Bulgaren gemeint. In den circa 50 Häusern, die geräumt werden sollen, wohnen etwa 800 Menschen. Das sind vier Prozent der Bevölkerung von Marxloh. Mittlerweile haben wir die Information, dass eine Wasserabstellung für die etwa nächsten anderthalb Wochen nicht stattfinden soll und Ende September ein neuer Vertrag mit der neuen Verwaltung geschlossen werden soll. Bis der allerdings seinen bürokratischen Gang gegangen ist, besteht weiterhin die Gefahr, dass die Menschen ohne Wasser dastehen und geräumt werden.

Welche Strafen sind für die zahlungsunwillige Hausverwaltung vorgesehen?

Es geht hier auch nicht um das fehlende Geld, sondern um das eigene politische und wirtschaftliche Standing. Es sind keinerlei Vollstreckungen gegen Ivere bekannt. Die Bewohner der betroffenen Häuser können nichts für ihre Position in diesem System, sondern wurden unter Zuhilfenahme der Medien als Sündenbock vom System und den Kapitalisten in diese Position gedrängt.

Wer ist verantwortlich für diese Situation?

Verantwortlich ist die Ivere Property Management GmbH und ihr ehemaliger Geschäftsführer Mattheo Colusso, die ihre Mieter betrogen haben. Dahinter steht ein Firmengeflecht, in dem die Geschäftsführer regelmäßig wechseln. Wir sehen aber auch bei der Stadt eine Verantwortung: Sören Link als Oberbürgermeister und Aufsichtsrat der Stadtwerke hat von den fehlenden Zahlungen schon lange gewusst. Die Notlage, in die die Bewohner in Marxloh geraten sind, hätte viel früher auch von seiten der Stadt kommuniziert werden müssen. Außerdem liegt es bei einer Wasserabstellung im Ermessen der Stadt, ob die Wohnungen geräumt werden müssen. Dass die Stadt ihren Ermessenspielraum komplett ausnutzt, zeigt, dass ein Interesse besteht, die Menschen aus dem Viertel zu vertreiben.

Gibt es Erfahrungen mit Ivere aus anderen Städten?

Wir konnten Medienberichten entnehmen, dass es mit Ivere als Verwalter ähnliche Fälle unter anderem in Berlin, Eisenach, Rostock und Ruhla im Wartburgkreis gab.

Wo werden diese vielen Menschen denn jetzt so kurzfristig untergebracht? Wäre da neben dem Vermieter in solch einer Notlage nicht auch die Stadt in der Pflicht?

Zunächst ist rechtlich der Vermieter in der Verantwortung, eine neue Wohnung zu finden. Die Stadt verweist darauf, dass die Menschen bei Freunden und Familie unterkommen sollen. Sie ist aber nach dem Ordnungsbehördengesetz verpflichtet, Ersatzwohnraum zu organisieren.

*

Die Marxloher Nachbarn waren offenbar erfolgreich. Nach einer spontanen Demonstration von 400 Bewohnerinnen am vergangenen Donnerstag sind die Räumungen vorläufig verhindert, das Wasser wird nicht abgestellt. (jW)

Maik Horn ist Sprecher der Initiative Marxloher Nachbarn

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

  • Leserbrief von Roland Winkler aus Aue (9. September 2024 um 11:55 Uhr)
    Marxloh, inzwischen bekannt für Wohnung-, Armuts- und rassistische Probleme im westlichen Teil Deutschlands. Westbeauftragte gibt es noch nicht. Würden sie Abhilfe schaffen? Kaum. Menschen aus Wohnungen vertreiben, entwohnen oder welche menschenfeindlichen Umschreibungen es bereits gibt, ist längst bundesweites Problem der großen Städte, Berlin bis Stuttgart nicht minder Beispiel menschenverachtender Wohnungspolitik.
    Eine ostdeutsche Bauministerin hat bisher nicht mehr geleistet als zu erklären, wie falsch und katastrophal ostdeutsche Wohnungspolitik gewesen sei. Stuttgarter Nachrichten fragen zum Thema, ob Zehntausende leerstehende Wohnungen ein Problem seien. Falsche Frage wäre zu antworten. Für wen ein Problem, für wen ein soziales Menschenrechtsproblem oder für wen ein Markt-, ein Geschäfts- und Profitproblem?
    Das wird nicht gern so klar gesagt und gehört, ändert nichts an den Tatsachen der gelobten Marktwirtschaft. Ob Wohnen, Gesundheit, Bahn, Bahnhof, Post, öffentliche Güter u. a.; nicht nur Wohnungssuchende nach bezahlbarem Wohnraum müssen oder könnten zur Erkenntnis kommen, die Verheißungen der Märkte, der Märkte, die privatisiert alles besser, allein und effizienter für die Kunden regeln sollen, das muss Betrug und Täuschung sein. Richtig wäre zudem die Frage und Antwort darauf, in wessen Interesse regelt Markt alles bestens und dann macht eben auch leerstehender Wohnraum oft mehr Sinn als Menschenrecht. Nein, normal aus Menschenrechtssicht kann es nicht sein, Mangel an Wohnraum, leerstehende Wohnungen und steigende Mieten. Marktgerecht kann es noch immer sein. Fragen stellen ist das eine. Wer gibt die Antworten, markt- oder menschengerecht, vielleicht am besten beides.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Fjerritslev (8. September 2024 um 21:29 Uhr)
    Verwalter, Vermieter, Eigentümer? Was ist/war Ivere? Ist Ivere der ehemalige Verwalter? Wer verwaltet jetzt die Immobilie? Haben die MieterInnen die Nebenkosten bezahlt und Ivere sie unterschlagen? Wenn ein Verwalter Geld veruntreut, was man dem Artikel entnehmen kann, macht er sich strafbar. Die jährlichen Abrechnungen müssten ja greifbar und somit der Schaden quantifizierbar sein. Wenn Vermieter (Eigentümer) und Verwalter nicht identisch sind, müsste der Vermieter den Verwalter auf Schadenersatz verklagen. Entsprechend die MieterInnen. Insgesamt stellt sich der Eindruck ein, dass hier eine systematische Entmietung mit kriminellen Methoden stattfinden soll. Wer hat wen wofür beschäftigt/bezahlt?

Ähnliche:

  • Gedenken an die sieben Toten des Brandanschlags von 1984 (Duisbu...
    27.08.2024

    Unerwünschte Sichtweisen

    40. Jahrestag des Anschlags auf Migranten in Duisburg. Überlebende kritisieren Behörden
  • Anti-Pegida-Demonstration hinter Polizeiabsperrung am 19. Januar...
    16.12.2015

    »Nicht nur gegen Neonazis«

    Grundkonsens auch gegen Krieg und Sozialabbau? Duisburger Netzwerk gegen Rechts will Debatte über antifaschistische Bündnispolitik anstoßen. Ein Gespräch mit Kerstin Dieckmann

Regio:

Mehr aus: Inland