Junge ohne Bude
Von Oliver RastSie sind jung – und immer öfter wohnungslos. Das geht aus dem am Montag veröffentlichten Statistikbericht für das Jahr 2022 der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG-W) hervor. 32 Seiten stark »zu Lebenslagen wohnungsloser und von Wohnungslosigkeit bedrohter Menschen in Deutschland«. Oder kurz: ein Lebenslagenbericht, schwerpunktmäßig zu jungen Personen in Wohnungsnot.
Zum Zahlenwerk: Rund 71 Prozent der Menschen, die in freiverbandlichen Einrichtungen und Diensten Hilfe suchen, sind akut wohnungslos. Elf Prozent sind unmittelbar von Wohnungslosigkeit bedroht, knapp vier Prozent leben in unzumutbaren Wohnverhältnissen, so die Berichterstatter der BAG-W. Die aktuellen Ergebnisse basieren auf Daten von mehr als 38.200 Klientinnen und Klienten aus 227 Einrichtungen und Diensten freier Träger. Eine Wohnungsmisere, die auch geschlechtsspezifisch messbar ist, etwa ein Drittel der Betroffenen ist weiblich, zwei Drittel sind männlich. Und: Jede vierte wohnungslose Frau ist jünger als 25 Jahre.
Schlimmer noch: Der BAG-W zufolge erreichte der Anteil der Hilfesuchenden in Haushalten mit Kindern im Vorberichtsjahr 2021 einen neuen Höchststand mit elf Prozent, »gleichmäßig verteilt auf Paare mit Kindern und alleinerziehende Haushalte«. Ein Level, das sich 2022 auf hohem Niveau »stabilisiert« habe. Nicht nur das: »Mit rund 39 Prozent konnte weit mehr als jede dritte Familie, die eine Hilfseinrichtung aufsuchte, bei Hilfebeginn keine eigene Wohnung vorweisen.«
Und weiter, zirka 16 Prozent der Klientinnen und Klienten, die Hilfsangebote annehmen, sind unter 25 Jahre alt. Besorgniserregend sei, so die BAG-W, »dass fast 13 Prozent der akut wohnungslosen Menschen im Alter von 18 bis 25 Jahren die Nacht vor Hilfebeginn auf der Straße verbracht haben.« Bei den unter 18jährigen seien es sogar 16 Prozent.
Sarah Lotties, Fachreferentin für Statistik und Dokumentation bei der BAG-W, weiß: »Jeder zweite wohnungslose junge Mensch kommt bei mehr oder weniger guten Freund:innen oder Bekannten unter.« Was zunächst harmlos klinge, sei in der Realität oft geprägt von provisorischen, temporären Behelfslösungen. Ein Leben in Unsicherheit eben. Ferner ergeben sich aus einer solchen Wohnsituation Abhängigkeitsverhältnisse, bisweilen gefährliche, etwa sexualisierte. Lotties’ BAG-W-Kollege Martin Kositza ergänzt: In Wohnungsnot bzw. ohne Obdach zu sein bedeuteten besonders für junge Leute deutlich schlechtere Chancen auf Bildung, Teilhabe oder beruflichen Erfolg. »Das Resultat ist oft Armut und soziale Ausgrenzung.«
Was sagen Mieterverbände? Der Bericht zeige abermals, »dass die herrschende Politik das immer dramatischer werdende Problem der Wohnungslosigkeit weitgehend ignoriert«, sagte Rainer Balcerowiak, Pressesprecher der Berliner Mietergemeinschaft, am Montag gegenüber jW. Wohnungslose brauchten Wohnungen, um wieder an ein selbstbestimmtes Leben herangeführt zu werden, und nicht immer neue prekäre Zwischenlösungen. Nötig seien geschützte Segmente im Bestand und vor allem hohe Investitionen in den kommunalen Wohnungsbau. Nur so seien Wohnungslosigkeit und Wohnungsmangel überwindbar, betonte Balcerowiak weiter. Kurz und prägnant formuliert es der Geschäftsführer des Mietervereins zu Hamburg, Rolf Bosse, gleichentags gegenüber dieser Zeitung: »Es ist ein Skandal, dass Wohnungslosigkeit bei jungen Menschen ein Thema ist.«
Ähnlich interpretiert Caren Lay (Die Linke) die Lage. Demnach seien Miet- und Energieschulden häufigste Ursache für Wohnungsverlust, so die wohnungspolitische Sprecherin ihrer Bundestagsgruppe am Montag zu jW. Junge Erwachsene, die aus der elterlichen Wohnung auszögen, fänden oft keine eigene und für sie leistbare Wohnung. Die Ampelkoalition bleibe in Wohnungsfragen, speziell bei Maßnahmen gegen Mieterhöhungen, untätig. Gänzlich.
Und Katrin Schmidberger (Bündnis 90/Die Grünen) empört sich: Allein in der Bundeshauptstadt stünden zwei Prozent der Wohnungen leer, »sage und schreibe 40.000 Wohnungen«, sagte die Fraktionssprecherin ihrer Berliner Abgeordnetenhausfraktion jW. Es sei zynisch, dass für Vermieter Leerstand ein Steuerabschreibungsmodell sei, »während gleichzeitig immer mehr Leute auf der Straße schlafen müssen«. Vor allem immer mehr junge.
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