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Aus: Ausgabe vom 10.09.2024, Seite 11 / Feuilleton
Wege zum Weltfrieden

Die Tschechowsche Lösung

Lieber traurig als tot: Der Linke-Politiker Jan van Aken fordert in seinem neuen Buch nicht nur für die Ukraine Verhandlungen statt Waffen
Von Irmtraud Gutschke
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Ohne Panzer im Kopf: Friedensdemo »Nein zu Kriegen« (Berlin, 25.11.2023)

Über 20 Jahre außenpolitische Erfahrungen, auch als promovierter Biologe Biowaffeninspekteur für die UNO, von 2009 bis 2017 für Die Linke im Bundestag – und nun Kandidat für den Parteivorsitz. Der Friedensaktivist Jan van Aken macht auch Menschen außerhalb der Partei Hoffnung.

»Worte statt Waffen. Wie Kriege enden und Frieden verhandelt werden kann« – schon mit dem Titel seines soeben erschienenen Buches sendet er eine Botschaft. Dazu ein Ölzweig auf weißem Grund. Aber »Friedenstauben« haben’s schwer in diesen Zeiten, da viele in Waffenlieferungen an die Ukraine eine Verpflichtung sehen. Sich dagegen auszusprechen fordert Mut, Entschlossenheit und wohl auch politisches Geschick. Denn wie durch die deutsche Bevölkerung überhaupt, zieht sich ein Riss auch durch Die Linke, die sich bislang nicht bereitfinden konnte, sich als Friedensbündnis konsequent gegen den politischen Mainstream zu positionieren. Bei den Wahlen in Sachsen und Thüringen gab es dafür die Quittung.

Das Buch ist gut zu lesen, geradezu spannend. Der Autor wirkt sympathisch, erzählt von Erfahrungen von Mediatoren in Friedensverhandlungen, die man bewundern muss. Lesend führt er uns gleichsam rund um den Globus: in den Irak und nach Syrien, nach Kenia und nach Bosnien, nach Kolumbien und nach Sudan, auf die indonesische Insel Sulawesi, nach Zypern, Nordirland, Mogadischu und, und, und. Wir schauen in die Ukraine und nach Gaza, aber die Welt brennt anderswo auch. Sie ist voller Konflikte, die jeweils in ihrer Eigentümlichkeit zu betrachten und auch nur in ihrer Eigentümlichkeit zu lösen sind.

»Frieden ist kein Endergebnis, sondern ein Prozess«, heißt es im Buch. Oft ziehen sich die Verhandlungen über Jahre hin, und zwischendurch kann Gewalt ausbrechen. »Denn meist haben beide Seiten Kriegsziele, die in der Regel unvereinbar sind, sonst wäre der Krieg nicht begonnen worden.« Wie soll man da die Bevölkerung auf eine Friedenslösung einschwören, nachdem sie durch unablässige Kriegspropaganda zur emotionalen Gegnerschaft erzogen worden ist? Und vor allem auch durch die Realität. Krieg produziert Opfer und Schuld, hinterlässt Hass, auch nachdem er geendet hat.

Möglichst viele Betroffene sollten eingebunden werden »und nicht einfach nur zwei Oberchefs«, die »etwas hinter verschlossenen Türen aushecken«. Klingt gut, aber kriegführende Länder sind doch meist auf »Oberchefs« ausgerichtet. Weil jede Friedenslösung ein Kompromiss ist, besteht indes die tatsächliche Herausforderung darin, das in der Breite der Bevölkerung akzeptabel zu machen. »Als ich bei den Vereinten Nationen in New York gearbeitet habe, gab es dort ein geflügeltes Wort: Ein guter Kompromiss ist einer, der alle Seiten gleichermaßen unglücklich macht.« Dazu fiel mir eine Aussage des israelischen Schriftstellers Amos Oz (1939–2018) ein, als er 1992 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Auf den ständig schwelenden Palästina-Konflikt angesprochen, brachte er einen Vergleich aus der Dramatik: Shakespearesche oder Tschechowsche Lösung. Bei Shakespeare hat eine Seite gewonnen, und die Bühne ist voller Leichen. Revanche liegt in der Luft. Bei Tschechow ist niemand zufrieden, alle sind traurig, aber am Leben geblieben.

Wenn die Bühne aber nun schon voller Leichen ist, an denen die einen den anderen die Schuld geben? »Ohne gegenseitiges Vertrauen geht es nicht.« Darin hat Jan van Aken zweifellos recht. Auf den Ukraine-Krieg bezogen, den man beim Lesen immer mitdenkt, bin ich indes hilflos in der Frage, wie wieder Vertrauen wachsen soll. Die Ukraine hat einen wichtigen Platz in der US-Politik. Und Jan van Aken spricht zu Recht von einem Stellvertreterkrieg. »Nur zwei Monate nach der russischen Invasion gab der US-Verteidigungsminister zum Beispiel das Ziel aus, dass das russische Militär dauerhaft geschwächt werden solle. Aus Sicht der USA ist dieses Ziel vielleicht verständlich, würden sie doch einer anderen (ehemaligen) Großmacht dadurch nachhaltig schaden – aber mit Solidarität oder Unterstützung für die Menschen in der Ukraine hat das nichts zu tun.«

Blauäugig wäre die Frage, was den USA eigentlich das Recht gibt, sich dermaßen »robust« in europäische Belange einzumischen. Dieser Staat mischt sich überall ein. Ich bin Jan van Aken dankbar, wie ausführlich er die Lügen behandelt, welche die Kriege in Irak und Syrien rechtfertigen sollten. Das Buch »The Grand Chessboard« (1997) von Zbigniew Brzeziński (1928–2017) dürfte er kennen. Gerade jetzt ist es unter dem Titel »Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft und der Kampf um Eurasien« wieder erhältlich. Brzeziński wusste genau um die Bedeutung der Ukraine in bezug auf geopolitische Interessen der USA und Russlands und stand natürlich entschieden für erstere. Die mentale und militärische antirussische Aufrüstung der Ukraine brachte Deutschland in eine schwierige Lage. Das Bekenntnis von Angela Merkel, die Minsker Verhandlungen seien nur geführt worden, um der Ukraine Zeit zu geben, stärker zu werden, hat in Moskau verheerende Wirkung gehabt. Putin war bis dahin noch von einem irgendwie gearteten Vertrauensverhältnis mit Merkel ausgegangen. Während ihrer Amtszeit standen sie regelmäßig in Kontakt. Russland-Kenner, von denen der 1961 in Reinbek gebürtige Jan van Aken wohl keiner ist, wissen um die viel stärkere Emotionalität bezüglich Achtung und Vertrauen dort.

Und der Krieg hat ja auch nicht erst mit dem russischen Überfall begonnen, sondern mit der militärischen Operation der ukrainischen Armee gegen die Ostgebiete, denen Kiew nicht das Zipfelchen Autonomie geben wollte. Dieser Feldzug gegen die russischsprachige Bevölkerung vor nationalistischem Hintergrund wurde von der deutschen Berichterstattung ausgeblendet, und es gab keinen politischen Protest dagegen. Weil das im US-Interesse war.

»Die Konkurrenz zwischen Russland und den USA – beziehungsweise der NATO – könnte auch künftige Schritte in Richtung eines nachhaltigen Friedens verhindern.« Nur »könnte« oder »würde«? Wenn der Autor im folgenden Fehlentscheidungen der EU aufzählt, wie die Ablehnung des russischen Vorschlags eines gemeinsamen Wirtschaftsraums von Wladiwostok bis Lissabon oder wie die NATO-Osterweiterung und den NATO-Raketenschild, ist nicht gesagt, dass die westlichen Akteure daraus lernen. Im Gegenteil. Russland zu schwächen bleibt das Ziel. Van Akens im Buch ausgeführtes Argument, Russland würde nach einem Sieg in der Ukraine »nichts mehr davon abhalten, noch weitere Nachbarländer zu überfallen«, gibt allerdings jenen recht, die für Waffenlieferungen und weitere deutsche Aufrüstung sind. Ich kann es mir nur so erklären, dass er auch Ängste in den Reihen der Linken ernst nehmen und Brücken schlagen will.

Andererseits gilt im Buch ein ganzes Kapitel Egon Bahr (1922–2015), dem »Meister der Entspannung«: »Das zentrale Geheimnis der kooperativen Sicherheit liegt darin, die Sicherheitsinteressen der jeweils anderen Seite mitzudenken. Und darauf einzugehen.« Genau das ist in bezug auf Russland unterlassen worden, weil sich die deutsche Regierung den geopolitischen Interessen der USA untergeordnet hat. Bei der Buchvorstellung in der Rosa-Luxemburg-Stiftung am 2. September in Berlin verneinte Jan van Aken jedenfalls, dass von Russland eine Bedrohung für Polen, das Baltikum oder Deutschland ausginge. Überhaupt sei die NATO so weit aufgerüstet, dass kein Bedarf für weitere Aufrüstung besteht.

Jan van Aken: Worte statt Waffen. Wie Kriege enden und Frieden ­verhandelt werden kann. Econ-Verlag, 302 Seiten, 22,99 Euro

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (11. September 2024 um 16:41 Uhr)
    Putin soll vor 10 Jahren zu Poroschenko gesagt haben: »Wenn ich wollte, könnten russische Truppen in zwei Tagen nicht nur in Kiew, sondern auch in Riga, Vilnius, Tallinn, Warschau oder Bukarest sein.« Die entstellende Kurzfassung in der Süddeutschen Zeitung lautet: »Russlands Präsident Putin soll Europa massiv bedroht haben. Binnen zwei Tagen könnten seine Truppen Riga, Vilnius oder Warschau erreichen«. Proschenko habe Putins Worte dem EU-Komissionspräsidenten Barroso berichtet. Der EU-Bericht darüber wurde dann vorgeblich an die Süddetusche Zeitung geleakt. Laut Interfax soll Poroschenko den Bericht dann aber gleich wieder in Frage gestellt haben (https://en.interfax.com.ua/news/general/224461.html). Und auch die EU deutet an, dass da etwas »in Presseartikeln aus dem Zusammenhang gerissen« worden sei. Von Russland wurde die Geschichte ebenfalls sofort als »gewöhnliche Ente« zurückgewiesen (vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/poroschenko-vor-us-kongress-es-ist-auch-amerikas-krieg-1.2135202). Gleichwohl geistern die vorgeblichen russischen Pläne für Aggressionen gegen diverse NATO-Staaten nunmehr mindestens 10 Jahre fast ungebremst durch die westliche Medien- und Polit-Blase. Endlose Dementis werden nur zu gern überhört, wenn das Dementierte viel besser der eigenen Gier dienstbar gemacht werden kann. Es spricht für van Aken, dass er zumindest bei der Buchvorstellung eine russische »Bedrohung für Polen, das Baltikum oder Deutschland« verneint hat. Zumindest solange Putin Präsident ist, sehe auch ich keine russische Gefahr. Aus der zweiten Reihe, etwa von Medwedew, kommen allerdings auch mach bedenkliche Kommentare. Der Westen hat leider 25 Jahre zu intensiv daran gearbeitet, sich Russland zum Feind zu machen, etwa mit dem Angriffskrieg gegen Serbien oder der Einflussnahme zur Maidan-Revolte. Wie die Nach-Putin-Ära aussehen wird, ist für mich offen. Man sollte nicht überrascht sein, wenn einem dann die eigene Aggressivität vermehrt als Echo begegnen wird.
  • Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (11. September 2024 um 14:24 Uhr)
    Nein, es geht nicht immer so zu wie bei Tschechow. Es gab auch 1918 und vor allem 1945, es gab 1975 (Vietnam), und es gab 2021 (Afghanistan). Mitunter geht es nicht so zu!
    Man kann es begrüßen, dass van Aken und Schwerdtner nun meinen, dass es in Gaza wie in der Ukraine zu Verhandlungen, zu diplomatischen Lösungen, zu einem Ende des Tötens und Sterben kommen müsse.
    Man kann es begrüßen, dass die künftige Spitze der Linkspartei damit Abschied genommen hat – allerdings ohne das ausdrücklich zuzugeben – von der fast uneingeschränkten Parteinahme für die Kiewer Regierung, von der Bejahung der ins eigene Fleisch schneidenden Sanktionen gegen Russland, von der Forderung »Russen raus aus der Ukraine« als Vorbedingung aller Verhandlungen und von der (zwar nicht von allen Spitzenfunktionären erhobenen) Forderung nach Waffenlieferungen an Kiew.
    Aber auch wenn das alles zu begrüßen sein mag, zu einer »gesellschaftlich prägenden Kraft« – so die Überschrift am selben Tag im ND – wird die Linkspartei dadurch noch lange nicht. »Ohne gegenseitiges Vertrauen geht es nicht« (Zitat) gilt nämlich auch für Parteien! Und die »Panzerlieferlinke« gibt es noch!

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