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Aus: Ausgabe vom 11.09.2024, Seite 2 / Inland
Migrationspolitik

»Um das Wohl der Afghanen ging es nie«

Abschiebeflug nach Kabul: Verhandlungen über sogenannte Rückführungen kommen Anerkennung der Taliban gleich. Ein Gespräch mit Emran Feroz
Interview: Jakob Reimann
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Abschiebung nach Afghanistan, Jahre vor der Machtübernahme der Taliban (München, 22.2.2017)

Erstmals seit der Machtübernahme der Taliban hat Deutschland wieder nach Afghanistan abgeschoben. Wie bewerten Sie das mit Blick auf die Menschenrechtslage vor Ort?

Das ist zwar die erste Abschiebung seit der Taliban-Rückkehr, doch eine echte Zäsur ist das Ganze nicht. Noch kurz vor August 2021 haben Deutschland und andere EU-Staaten nach Afghanistan abgeschoben, und man hat sich überhaupt nicht für die verheerende Sicherheitslage vor Ort interessiert. Heute ist die Situation weiterhin verheerend. Nur die Art der Menschenrechtsverstöße hat sich verändert, weil nicht mehr dieser klassische Krieg geführt wird, sondern die Taliban jetzt mit ihrer totalitären Diktatur beschäftigt sind. Und in der gibt es keine Menschenrechte. Die Gefängnisse sind voll mit Dissidenten, mit einfachen Leuten, die wegen Facebook-Kommentaren eingeknastet wurden, mit Medienschaffenden oder Menschenrechtsaktivisten. Vor allem ehemalige Soldaten werden gejagt, getötet, gelyncht, gefoltert. Allerdings geschieht das meist abseits von Kabul, weil dort niemand wirklich hinschaut. Die »Kabulisierung« der Medienberichterstattung hat uns in den letzten 20 Jahren durchgehend begleitet, so dass wir nicht mitbekommen haben, dass NATO und Co. die ländlichen Gebiete Afghanistans plattmachen und mit ihrer Kriegspolitik die Bevölkerung dort radikalisieren.

Kurz vor der Abschiebung haben die Taliban das »Tugendgesetz« verabschiedet. Was steht dort drin?

Das, was seit zwei, drei Jahren sowieso zum Alltag gehört, wurde durch das »Tugendgesetz« nun kodifiziert: Verschleierung und drastisch reduzierte Bewegungsfreiheit von Frauen; das also, was Kritiker als Gender-Apartheid bezeichnen. Frauen dürfen öffentlich nicht mehr laut sprechen, nicht singen. Dagegen gab es diese Kampagne in den sozialen Medien: Singende Afghaninnen filmen sich und setzen sich mit dieser Aktion gegen das »Tugendgesetz« zur Wehr. Aber auch Männer sind den neuen Vorschriften unterworfen. Vor allem jene, die im öffentlichen Bereich arbeiten, müssen traditionelle afghanische Kleidung und einen Vollbart tragen. Taxifahrer dürfen keine alleinstehenden Frauen befördern, es gibt Musikverbote.

Und in Deutschland gab es partei- und lagerübergreifend großen Beifall für den ersten Abschiebeflug.

Der Diskurs in Deutschland ist ganz klar rassistisch aufgeheizt. Hier wird auf Kosten von Afghaninnen und Afghanen Politik gemacht. Man denkt parteiübergreifend, dass man so den Rechten irgendwie die Stimmen wegnimmt, und das hat mittlerweile eine total widerliche Ebene erreicht.

Der Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Joachim Stamp, FDP, verkündete am Wochenende seine Bereitschaft für direkte Gespräche mit den Taliban über künftige Abschiebungen. Käme das einer zumindest indirekten Anerkennung ihres Regimes gleich?

Die Taliban wurden bis dato von keiner einzigen Regierung offiziell anerkannt. Aber die Isolierung ihres Regimes ist bei weitem nicht vergleichbar mit der Situation in den 90er Jahren. Heute sprechen viele Staaten indirekt mit den Taliban, haben ihnen etwa die Übernahme der Botschaften und Konsulate in ihren Ländern gestattet. Und sollte Stamps Vorschlag zu direkten Gesprächen in die Tat umgesetzt werden, käme das einer Anerkennung des Regimes gleich. Es gab Situationen, da hätte man durchaus auch »wertebasiert« mit den Taliban verhandeln können.

Welche zum Beispiel?

Vor ein, zwei Jahren etwa, als es um die Frage ging, wie man Millionen von Afghaninnen und Afghanen vor dem Hungertod und anderen Übeln, die das Land heimsuchen, bewahren konnte. Das hat man aber nicht. Solche Gespräche finden nur dann statt, wenn es um die vermeintlich eigene Sicherheit geht, um innenpolitische Dinge, um Abschiebungen also. Um das Wohl der Menschen in Afghanistan ging es nie und wird es auch weiterhin nie gehen. Es liegt im Interesse der EU, dass – so wie damals im Oktober 2016 mit der prowestlichen afghanischen Regierung – auch mit den Taliban wieder ein Abschiebedeal für Rückführungen aus sämtlichen EU-Ländern zustande kommt. Und vielleicht ist es ja am Ende tatsächlich das Land mit der »feministischen Außenpolitik«, das als erstes das Regime der Taliban anerkennt.

Emran Feroz ist ein austroafghanischer Journalist und Autor. Im April erschien sein jüngstes Buch »Graveyard Empire«

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