Cliquenwirtschaft in Kiew
Von Reinhard LauterbachWas die in der vergangenen Woche entlassenen Minister der ukrainischen Regierung angeblich falsch gemacht haben, ist auch nach Tagen nicht deutlich geworden. Ebensowenig wie absehbar ist, dass die designierten Nachfolger irgendeines der tatsächlichen Probleme des kriegführenden Landes besser lösen können als ihre geschassten Vorgänger. Zumal ein Teil der als Minister entlassenen Politiker anschließend direkt in die Präsidialverwaltung gewechselt ist.
Noch am deutlichsten fiel die Begründung für die Entlassung von Außenminister Dmitro Kuleba aus. Der habe, ließ sich Präsident Wolodimir Selenskij zitieren, mehr Zeit mit der Werbung für ein von ihm verfasstes Buch verbracht, als damit, bei den westlichen Sponsoren der Ukraine umfangreichere Waffenlieferungen und großzügigere Richtlinien für Schläge im Inneren Russlands herauszuholen. Kuleba habe wenig Neigung gezeigt, »sich die Finger schmutzig zu machen«, zitiert der britische Economist Quellen in der Präsidialverwaltung. Das US-Portal Politico dagegen wollte erfahren haben, Kuleba habe zu gute und vor allem unmittelbare Kontakte zu den westlichen Regierungen unterhalten. In der Präsidialverwaltung sei unangenehm aufgefallen, dass Kuleba immer öfter im Anschluss an offizielle Termine auch private Treffen mit westlichen Diplomaten wahrgenommen habe. Im Kern lautet der Vorwurf also nicht, Kuleba habe seine Arbeit nicht gemacht, sondern umgekehrt: Er habe sie zu selbständig gemacht und sich der Kontrolle durch die Präsidialadministration entzogen.
Auffällig ist, dass viele westliche Politiker die Entlassung Kulebas ausdrücklich bedauerten. US-Außenminister Antony Blinken soll ihm in einem Abschiedstelefonat ausdrücklich gedankt haben, Annalena Baerbock wurde auf X geradezu sentimental und äußerte die Hoffnung auf ein Wiedersehen, »sobald Frieden und Freiheit in die ganze Ukraine zurückgekehrt« sein würden, fast wie der »Brave Soldat Schwejk« sich »nach dem Krieg um halb sechs im Kelch« verabredete. Ähnlich wie Kuleba waren allzu enge Beziehungen zu den westlichen Sponsoren auch dem nicht korruptionsverdächtigen Infrastrukturminister Olexander Kubrakow vorgeworfen worden, als er im Mai gehen musste. Schon damals habe Andrij Jermak, Chef der Präsidialverwaltung und engster Mitarbeiter von Selenskij, auch Kuleba loswerden wollen, schrieb das ukrainische Portal strana.news.
Der neue ukrainische Außenminister Andrij Sibiga kommt dagegen aus der Präsidialverwaltung und ist im übrigen ein Studienkollege von Jermak. Er will nach den Erläuterungen, die er nach seiner Ernennung im ukrainischen Parlament vortrug, eine »wenn nötig auch lautstarke« Diplomatie betreiben – ganz im Stil von Andrij Melnyk, der sich in seinem Interview mit der Berliner Zeitung auch der eigenen Bekanntschaft mit Sibiga seit Studienzeiten in den 1990er Jahren am Kiewer Institut für Internationale Beziehungen rühmte. Es entsteht also das Bild eines Netzwerks von Verehrern des ukrainischen Nazikollaborateurs Stepan Bandera, das seit mindestens 30 Jahren im Auswärtigen Dienst der Ukraine tätig ist und sich gegenseitig die Posten zuschiebt.
Ein Aspekt dieses Personalkarussells ist der Wunsch von Jermak und Selenskij, die Rolle der Präsidialadministration im ukrainischen Verfassungssystem zu Lasten von Parlament und Regierung zu stärken. Es ist die Grundlage für einen schleichenden Übergang zum Autoritarismus, denn die Präsidialverwaltung ist nur dem Staatschef gegenüber loyal und funktioniert faktisch als Nebenregierung. Jermak zum Beispiel war zuletzt gemeinsam mit dem – nicht entlassenen – Verteidigungsminister Rustem Umjerow in den USA, um von der Biden-Regierung die Erlaubnis zu Raketenschlägen ins Innere Russlands zu erbitten – bisher wohl ohne Erfolg.
Ein anderer Aspekt der Kabinettsumbildung dürfte wesentlich banaler sein. Ukrainische Parteien, zumal wenn sie kein inhaltliches Profil haben wie die Selenskij-Partei »Diener des Volkes«, sind Sammelbecken von Interessengruppen, die das Ziel haben, ihre Patrone und im Vorbeigehen auch sich selbst zu bereichern. Deshalb gelten Ministerien wie das für Infrastruktur oder auch Landwirtschaft als »fette« Ressorts, weil über die Schreibtische der dort Entscheidenden die westlichen Subventionen laufen und gern an alte Freunde und Leute, denen man einen Gefallen schuldet, weitergeleitet werden. Die westlichen Sponsoren der Ukraine nerven diese Reibungsverluste seit Jahren, aber ihr Kampf dagegen ist bisher weitgehend wirkungslos geblieben. Im Gegenteil. Wie der britische Investorennewsletter BNE Intellinews vor kurzem schrieb, hat ein nicht korruptionsaffiner Politiker in der Ukraine keine Chancen. Denn sein Umfeld nehme so jemanden sofort als möglichen Whistleblower und Denunzianten wahr und versuche, sich seiner bei nächster Gelegenheit zu entledigen.
Hintergrund: Vormarsch stagniert
Die russische Offensive im Westen des Donbass ist in den vergangenen Tagen offenbar zum Stillstand gekommen. Die Truppen greifen derzeit nicht in erster Linie den Verkehrsknotenpunkt Pokrowsk an, von dem sie noch knapp zehn Kilometer entfernt stehen, sondern sind nach Süden abgedreht und versuchen, den ukrainischen Frontbogen um Kurachowe abzuschneiden. Die an der Spitze dieses Bogens liegende Ortschaft Newelskoje wurde dieser Tage von der Ukraine geräumt, um eine Einkesselung zu vermeiden. Diese Stellungen waren jene, die räumlich der Stadt Donezk am nächsten liegen und noch von der Ukraine kontrolliert werden.
Am südlichen Ende des Frontbogens von Newelskoje sind die russischen Truppen offenbar bemüht, die von der Ukraine stark befestigte Bergbaustadt Wugledar zu umgehen und einzuschließen. Sie haben in den vergangenen Tagen westlich und nordöstlich der Stadt zwei Dörfer eingenommen, die jeweils an einer der Versorgungsrouten für die Stadt liegen. Von der dritten und letzten stehen sie nach Darstellung ukrainischer Militärblogger noch etwa fünf Kilometer entfernt. Von den übrigen Frontabschnitten und der Situation im ukrainisch besetzten Teil des Gebiets Kursk dringen kaum Nachrichten nach außen.
Laut CNN vom Wochenende desertieren immer mehr ukrainische Soldaten. Der US-Sender zitiert mehrere Kommandeure von Einheiten an der Front, die dafür sogar Verständnis aufbrachten. Als wichtigste Gründe nannten sie die Erfahrung hoher Verluste, ausbleibende Ablösungen sowie Mangel an Munition, der bei den Soldaten das Gefühl der Hilflosigkeit erzeuge. Nach dem Bericht wurden allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres 19.000 Ermittlungsverfahren wegen Desertation eingeleitet. Das entspricht einer Brigade pro Monat. Seitdem hat das ukrainische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das erstmalig Fahnenflucht praktisch straffrei stellt, wenn der Soldat zu seiner Einheit zurückkehrt. (rl)
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