Selbstlob und Schuldzuweisungen
Von Kristian StemmlerOffiziell sollte es in der Generaldebatte am Mittwoch im Bundestag um den Haushalt für 2025 gehen. Das ist der Beginn des rituellen großen Schlagabtauschs zwischen Regierung und Opposition in den viertägigen Haushaltsberatungen. Tatsächlich gab es praktisch nur ein Thema: das Scheitern der Gespräche zum Thema Migration zwischen Bundesregierung, Union und Ländern am Vortag. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) warf CDU-Chef Friedrich Merz vor, den Abbruch des Treffens am späten Dienstag nachmittag inszeniert zu haben. Dieser wies den Vorwurf als »infam« zurück.
Die Union hatte sich am Dienstag zur Teilnahme an der zweiten Runde der Migrationsgespräche bereit erklärt. Doch ihre Vertreter verließen die Verhandlungen nach relativ kurzer Zeit und erklärten sie für gescheitert. Merz sagte, die Ampelkoalition sehe sich nicht zu umfassenden Zurückweisungen von Geflüchteten an den Staatsgrenzen in der Lage, was die Union zuvor gefordert hatte.
In der Generaldebatte kritisierte Scholz in einer für seine Verhältnisse emotionalen Rede dieses Verhalten scharf. Merz habe sich »in die Büsche geschlagen«, rief er. Der Sozialdemokrat warf CDU und CSU »Sprücheklopfen« und »Theateraufführungen« in der Migrationspolitik vor. Scholz sprach den CDU-Chef direkt an: »Sie sind der Typ von Politiker, der glaubt, mit einem Interview in der Bild am Sonntag hätte er schon die Migrationsfrage gelöst.« Zugleich machte der Kanzler der Union das Angebot, die Gespräche doch noch fortzusetzen: »Die Tür ist nicht zu.«
Die Ampelkoalition habe die »größte Wende im Umgang mit irregulärer Migration« vollbracht, behauptete Scholz. Unter anderem verwies er auf die Beschleunigung von Abschiebungen, das »Sicherheitspaket« der Bundesregierung, das an diesem Donnerstag zum ersten Mal im Bundestag beraten wird. Der Redner betonte zugleich die Notwendigkeit von Zuwanderung. Es gebe »kein Land der Welt mit schrumpfender Erwerbsbevölkerung, das wirtschaftliches Wachstum hat«. Weltoffenheit sei notwendig, bedeute aber nicht, »dass jeder kommen kann, der das möchte«.
Überraschend hatte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt die Debatte eröffnet. Merz ließ ihm offenbar den Vortritt, um nach Scholz zu reden und auf ihn reagieren zu können. Dobrindt warf der Ampelregierung vor, mit ihrer Migrationspolitik den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland zu gefährden. Die Weigerung, eine umfassende Zurückweisung von Asylsuchenden an den Grenzen zu ermöglichen, sei »eine Kapitulation gegenüber der Überforderung unserer Kommunen, unserer Schulen, der Sicherheitslage in unserem Land«, behauptete Dobrindt.
Merz erklärte, er sei an weiteren Gesprächen zur Asylpolitik nicht interessiert. Der Abbruch der Verhandlungen sei nicht von ihm inszeniert. Vielmehr seien die von der Regierung in dem Gespräch auf den Tisch gelegten Vorschläge unzureichend gewesen. Deshalb habe die Union das Treffen verlassen. Es müsse eine auf Zeit angelegte Zurückweisung aller Asylsuchenden an den Grenzen geben, bekräftigte der CDU-Chef. Umfassende Zurückweisungen seien rechtlich möglich und praktisch geboten, erklärte Merz.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich bezeichnete den Abbruch der Migrationsgespräche als »Trauerspiel«. Der Demokratie und »vielleicht auch sich selbst« habe Merz damit einen Bärendienst erwiesen. Mützenich betonte, dass die Bundesregierung auch ohne die Unterstützung der Union »verantwortungsbewusste« Entscheidungen treffen könne. Es sei generell eine Illusion zu glauben, dass es auf die großen Fragen der Zeit einfache, »schnelle und widerspruchsfreie« Antworten gebe.
Heidi Reichinnek, Kovorsitzende der Gruppe Die Linke, kritisierte die Konzentration der Debatte auf das Thema Migration. Es müsse zwar darüber geredet werden, »aber tun Sie doch nicht so, als wäre das das einzige Problem, vor dem unser Land gerade steht«, sagte sie. Reichinnek warf der Regierung vor, keine Lösungen für Themen wie Mieten, Kliniken oder Arbeitsplatzsicherung zu haben. Auch die Kovorsitzende der BSW-Gruppe, Sahra Wagenknecht, attackierte die Ampelkoalition. Diese lasse Menschen an der Demokratie verzweifeln. Wagenknecht kritisierte die geplante Stationierung von US-Raketen in Deutschland und warf Scholz vor, seine Regierung sei eine Gefahr für Demokratie, Wohlstand, Sicherheit und Frieden in Deutschland.
FDP-Chef Christian Lindner forderte unterdessen einen neuen Anlauf mit einem Gipfelgespräch. Merz solle mit Scholz, Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) und ihm selbst persönlich verhandeln, schrieb Lindner auf X. Die Absage der Union an den Asylgipfel dürfe »nicht das letzte Wort sein«.
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