Der IS kommt nicht durch
Von Tim KrügerDie Bilder gingen um die Welt. Im Sommer 2014 bringt der »Islamische Staat« (IS) mit unglaublicher Geschwindigkeit weite Teile des Iraks und Syriens unter seine Kontrolle. Die Welt blickt in Schockstarre auf die Massaker der Islamisten. Im August 2014 steht die Terrormiliz nicht mehr weit entfernt von den Hauptstädten Bagdad und Damaskus. Am 13. September beginnen die Dschihadisten mit ihrem Großangriff auf die kleine Stadt Kobanê an der syrisch-türkischen Grenze. Bis an die Zähne bewaffnet gelingt es den Islamisten innerhalb weniger Wochen, das gesamte dörfliche Umland Kobanês unter ihre Kontrolle zu bringen. Zwar leisten die Volks- (YPG) und Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), unterstützt von mobilisierten Einheiten der Zivilbevölkerung, einen erbitterten Widerstand, der den Vormarsch der Armee des selbsternannten Kalifats über mehrere Wochen verzögert. Der IS kann bei seiner Offensive allerdings nicht nur auf Tausende kampferprobte Kämpfer zurückgreifen, sondern verfügt auch über 30 bis 50 Kampfpanzer, Panzerfahrzeuge und auch schwere Artilleriekanonen aus ehemaligen Beständen der irakischen und der syrischen Armee. Nach den Eroberungen von Städten wie Rakka oder Tabka hatte der IS sein Arsenal bereits beträchtlich erweitert, doch als sich um Juni 2014 die irakische Armee unter dem Eindruck des raschen Vormarsches der Terrormiliz nahezu kampflos aus der nordirakischen Provinzhauptstadt Mossul zurückzieht, fallen den Dschihadisten nicht nur die Vermögen der örtlichen Bankhäuser, sondern auch die von den USA prall gefüllten Waffenlager der irakischen Armee in die Hände.
Schneller Vorstoß
Derart ausgerüstet, durchbrechen die vorstoßenden Verbände des IS in kürzester Zeit die Linien der Verteidiger Kobanês. Die kurdischen Einheiten verfügen in den meisten Fällen lediglich über Sturmgewehre und leichte Maschinengewehre. Um in der Feuerkraft mit dem IS gleichziehen zu können, mangelt es vor allem an Panzerabwehrwaffen und Artillerie. Gepanzerte Fahrzeuge oder gar Panzer existieren in den Beständen der Volksverteidigungseinheiten so gut wie nicht. Aufnahmen zeigen improvisierte Panzerfahrzeuge, zusammengeschweißt aus Autos oder Baufahrzeugen und Stahlplatten. Angeführt werden die Stoßtruppen der Dschihadisten unter anderem von kampferfahrenen tschetschenischen Kämpfern. Seit dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011 kämpften Hunderte tschetschenische Gotteskrieger in den Reihen der Dschihadistenorganisationen. Die oft seit Jahren aktiven Islamisten – viele von ihnen ehemalige Mitglieder der nordkaukasischen Terrororganisation »Kaukasus-Emirat«, die 2015 den Treueeid auf den selbsternannten Kalifen Abu Bakr Al-Baghdadi leisten und im »Islamischen Staat« aufgehen wird –, bringen ihre Erfahrung im Kampf gegen die russische Armee auf das Schlachtfeld.
Als die Kämpfe Anfang Oktober 2014 den östlichen Stadtrand Kobanês erreichen, haben bereits weit über 150.000 Zivilisten die Flucht aus dem selbstverwalteten Kanton ergriffen. Während sich der Belagerungsring immer enger um die Stadt legt, wächst die Angst vor einer weiteren ethnischen Säuberung. Erst wenige Wochen zuvor hatte der »Islamische Staat« den Völkermord an der jesidischen Bevölkerung der Region Şengal im Nordirak verübt und laut Schätzungen der UNO mindestens 7.000 Mädchen und Frauen verschleppt und versklavt, die Jungen zu Kindersoldaten gemacht und nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 5.000 und 10.000 Menschen ermordet. Nach schweren Kämpfen gelingt es den Islamisten zwischen dem 4. und dem 5. Oktober schließlich, zuerst den südlichen Teil, dann den gesamten Miştenûr-Hügel süd-süd-westlich des Stadtzentrums unter ihre Kontrolle zu bringen. Von der strategisch wichtigen Erhebung lassen sich nahezu das gesamte Stadtzentrum und die umliegenden Dörfer überblicken. Mit der Eroberung der Anhöhe liegt die gesamte Stadt in der Reichweite der Mörser des »Islamischen Staates«. Im Bewusstsein um die taktische Relevanz des Miştenûr hatten die Verteidiger erbittert um jeden Meter gekämpft. Internationale Bekanntheit erlangt die Geschichte der YPJ-Kämpferin mit dem Kampfnamen Arîn Mirkan, die sich am 5. Oktober in aussichtsloser Lage auf dem Hügel selbst in die Luft sprengt und dabei zahlreiche Dschihadisten tötet. Auch heute noch ist das Bild der damals 22 Jahre alten Frau in den Städten und Dörfern Nord- und Ostsyriens omnipräsent. Sie ist das Symbol des Widerstands von Kobanê.
Nach der vollständigen Eroberung des Miştenûr dringen die Truppen des IS in das östliche Stadtgebiet vor. Die zahlenmäßig und waffentechnisch weit unterlegenen Verteidiger verschanzen sich in den Vierteln und versuchen, die Terroristen des »Islamischen Staates« in die »Tiefe« der Stadt zu ziehen. Während es im ungeschützten Umland nahezu unmöglich war, den Vormarsch der motorisierten und gepanzerten Verbände des IS aufzuhalten, müssen sich die Dschihadisten in der Stadt auf einen Kampf Haus um Haus, Straße um Straße einlassen. Mit zahlreichen »Selbstmordfahrzeugen« versucht der IS, die Verteidigungslinien der mehrheitlich kurdischen Verbände zu durchbrechen und steht kurz vor einem Erfolg. Als aber der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am 7. Oktober bei einer Rede vor syrischen Geflüchteten den »Fall von Kobanê« verkündet – »Kobanê ist gefallen und wird fallen!« –, bäumen sich die Bewohner der belagerten Stadt ein letztes Mal auf. Der IS hatte die Stadt aus drei Richtungen angegriffen und vollständig eingeschlossen. Den Kämpferinnen und Kämpfern der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten bleibt in ihrem Rücken nur noch die gut geschützte und hoch militarisierte türkische Grenze an der Nordseite der Stadt.
Freiwillige eilen zu Hilfe
Bereits in den Tagen zuvor hatte Salih Muslim, damals Kovorsitzender der Partei der Demokratischen Union (PYD), der einflussreichsten kurdischen Partei Nord- und Ostsyriens, die 2012 in Rojava den Aufstand gegen die syrische Regierung angeführt und den Grundstein für die Errichtung der demokratischen Selbstverwaltung gelegt hatte, einen verzweifelten Aufruf an die Weltgemeinschaft gerichtet. In den westlich und östlich gelegenen, von Kobanê abgeschnittenen Kantonen der Selbstverwaltung, Efrîn und Cîzre, stünden zahlreiche kampfbereite und ausreichend bewaffnete Verbände zur Verfügung und könnten, sofern die Türkei sich bereit erklärte, einen Korridor über türkisches Staatsgebiet zu öffnen, den eingeschlossenen Verteidigern zu Hilfe eilen und den IS zurückdrängen. Doch Erdoğan verfolgt einen anderen Plan. Anstatt Hilfslieferungen in die eingeschlossene Stadt zu ermöglichen oder den Kämpfern gar freies Geleit ins Schlachtfeld zu gewähren, lässt die türkische Regierung Panzer an der Grenze auffahren und mobilisiert mehr als 10.000 Soldaten. Verwundete Kämpferinnen und Kämpfer, die einer Behandlung durch einen Arzt bedürfen, werden teils stundenlang an der Grenze aufgehalten und verbluten in den Krankenwagen. Soldaten der Volksverteidigungseinheiten, aber auch Guerillakämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans, die versuchen, illegal die Grenze zwischen Syrien und der Türkei zu überwinden, werden verhaftet, der türkische Grenzschutz eröffnet das Feuer auf Freiwillige, die versuchen, den Eingeschlossenen zu Hilfe zu eilen.
Bereits im Juli, als sich der IS noch in den Vorbereitungen für die Offensive auf Kobanê befunden und alle seine Kraft auf den Vormarsch im Nordirak konzentriert hatte, hatte Abdullah Öcalan, Gründer und Vorsitzender der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), von seinem Gefängnis auf der Insel İmralı aus die kurdische Freiheitsbewegung vor der sich anbahnenden Gefahr gewarnt und zu einer Generalmobilisierung für Kobanê aufgerufen. Seit dem Beginn der Offensive auf die Enklave hatten sich Hunderte Freiwillige aus der gesamten Türkei und Kurdistan auf den Weg gemacht, um sich den Reihen der Verteidiger anzuschließen. Vor allem kurdische Studenten, aber auch die städtische Jugend, lassen sich nicht aufhalten und überwinden die mit Stacheldraht und Schießbefehl gesicherte Grenze nach Syrien. Meist ohne jedwede Kampferfahrung schließen sie sich den Verteidigern Kobanês an. Viele zahlten mit ihrem Leben und sind heute auf dem »Friedhof der Gefallenen« in Kobanê begraben. Auch internationalistische Freiwillige, vor allem aus der kommunistischen Bewegung der Türkei, ferner christliche Einheiten und arabische Verbände der säkularen syrischen Opposition, verstärken die Reihen des Widerstands.
Nicht alle erreichen die Stadt. Kader Ortakaya wird am 6. November bei dem Versuch, die Grenze in Richtung Kobanê zu überqueren, von türkischen Grenzschützern in den Kopf geschossen. Die kurdische Sozialistin verstirbt an Ort und Stelle. Im vorab geschriebenen Abschiedsbrief an ihre Genossen hatte sie erklärt, es sei für sie »Voraussetzung ihrer kommunistischen Identität«, sich dem »internationalistischen Kampf« in Kobanê anzuschließen.
Während die türkischen Sicherheitskräfte und die Armee alles unternehmen, die kleine Stadt auf der anderen Seite der Grenze ausbluten zu lassen, bewegen sich laut zahlreichen Augenzeugenberichten die Terroristen des »Islamischen Staates« ungehindert über die türkische Grenze. Vor den Augen türkischer Soldaten überqueren Milizionäre des IS die Grenze und greifen auch das Stadtgebiet wiederholt vom Norden her an. Die türkische Regierung rechnet Anfang Oktober mit dem baldigen Ende des Widerstands und dem Fall der Stadt. An die »Internationale Koalition« unter Führung der USA gerichtet, fordert Erdoğan die Schaffung einer »Sicherheitszone« im Norden Syriens.
Die Rechnung der Führung in Ankara, den IS zuerst die mehrheitlich kurdische Selbstverwaltung im Norden Syriens zerschlagen zu lassen, um anschließend mit Rückendeckung der »Internationalen Koalition« die Gebiete in Grenznähe zu besetzen und eine »Pufferzone« einzurichten, geht indes nicht auf. Für die kurdische Bewegung – aber auch die sozialistischen Kräfte der Türkei – ist klar, was in Kobanê auf dem Spiel steht. Öcalan appelliert Anfang Oktober erneut an die eigenen Leute und an die demokratischen Kräfte der Türkei, die Stadt »mit der nötigen Ernsthaftigkeit und Verantwortung zu schützen«. Sollte Kobanê fallen, würden der Friedensprozess »und der Weg der Demokratie in der Türkei« scheitern. Öcalan war seit Beginn der Friedensgespräche zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und der türkischen Regierung als Verhandlungsführer der kurdischen Seite aufgetreten. Im April 2015 unterbricht die türkische Regierung abrupt die Verhandlungen und kündigt im Sommer den Waffenstillstand mit der PKK auf.
Als die ersten schwarzen Fahnen des IS auf Gebäuden im Osten Kobanês wehen, wendet sich Selahattin Demirtaş, damals Kovorsitzender der kurdischen Partei HDP, am 6. Oktober an die Öffentlichkeit. Er verweist auf den äußerst kritischen Zustand an der Front und ruft die Bevölkerung dazu auf, auf die Straße zu gehen. Die türkische Regierung müsse ihre indirekte und direkte Unterstützung für den »Islamischen Staat« sofort einstellen, Freiwilligen und Kampfverbänden freies Geleit ermöglichen, die »Internationale Koalition« müsse entschlossener in das Kriegsgeschehen eingreifen und die Koordination mit den kämpfenden Einheiten auf dem Boden verstärken. Doch mit Ausnahme einzelner Luftschläge schaut das Militärbündnis teilnahmslos zu.
Solidarität weltweit
Noch am selben Tag geht die türkische Polizei gegen Demonstrationen und Kundgebungen in Solidarität mit Kobanê vor, woraufhin sich die Proteste zu einem regelrechten Aufstand auswachsen. In mehrtägigen Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Polizei, aber auch in Auseinandersetzungen mit islamistischen Organisationen in den kurdischen Gebieten, kommen nach Regierungsangaben 31 Menschen ums Leben.
Sowohl in den Städten Kurdistans als auch in den Metropolen der Westtürkei setzt sich vor allem die als Jugendorganisation der PKK geltende »Patriotische Revolutionäre Jugendbewegung« (YDG-H) militant gegen die Angriffe der Polizei zur Wehr. Weltweit gehen Millionen Menschen für Kobanê auf die Straße. Am 11. Oktober bekunden etwa in Düsseldorf laut Angaben der Veranstalter mehr als 80.000 Menschen ihre Solidarität. Die Protestwelle bringt die türkische Führung unter Zugzwang. Erdoğan gibt sich dennoch unbeeindruckt und erklärt am 10. Oktober, an seinem Kurs festhalten zu wollen. »Ein großer Staat wird sich gewaltsamen Protesten nicht ergeben.« Der Staat sei bereit, »alles Notwendige zu unternehmen, koste es, was es wolle«. Was diese Entschlossenheit bedeutet, stellt die türkische Führung nur wenige Tage darauf unter Beweis. Während Guerillakämpfer der PKK ihre Stellungen in den Bergen Nordkurdistans verlassen, allen Hindernissen zum Trotz die Grenze nach Syrien überqueren, um sich dem IS entgegenzustellen, lässt Ankara Kampfjets aufsteigen und trotz Waffenstillstands und laufenden Friedensverhandlungen Stellungen der PKK-Guerilla bombardieren.
Dennoch zeigen die Proteste und die weltweite Solidarität ihre Wirkung. Nicht nur die »Internationale Koalition« intensiviert ihre Angriffe auf die Terrormiliz, auch die türkische Führung muss unter internationalem Druck Anfang November einlenken. Zwar wird der Forderung nach einem direkten Korridor zwischen den unterschiedlichen Kantonen Rojavas nicht stattgegeben, doch lässt Ankara 200 Soldaten der Peschmerga, der bewaffneten Verbände der Autonomieregion Kurdistan im Irak, durch türkisches Staatsgebiet nach Kobanê passieren. Zu diesem Zeitpunkt war es den Verteidigern Kobanês bereits gelungen, eine entscheidende Gegenoffensive gegen die Dschihadisten einzuleiten. Nach 134 Tagen blutiger Kämpfe, die auch den Großteil des Stadtkerns Kobanês in Schutt und Asche gelegt hatten, gelingt den Kräften der Selbstverwaltung, den letzten Widerstand der Dschihadisten zu brechen, und am 26. Januar 2015 verkünden die Verteidiger ihren Sieg. Der Sieg von Kobanê hat deshalb erhebliche Symbolkraft, weil dem IS in der kleinen Grenzstadt zum ersten Mal seit seinem schier unaufhaltsamen Vormarsch der Nimbus der Unbesiegbarkeit genommen wurde. Kobanê wurde zum Wendepunkt im Krieg. Seither koordinierten die Kräfte der Selbstverwaltung und jene der »Internationalen Koalition« unter Federführung der USA ihre jeweiligen militärischen Aktionen.
Bodentruppen des Imperialismus?
Während die revolutionären Kräfte Rojavas stets betonten, dass es sich bei dieser antidschihadistischen Allianz um ein kurzfristiges »taktisches Bündnis« handele, übten Teile der internationalen revolutionären Linken herbe Kritik. Mit der US-Kooperation hätten sich die Kräfte im Norden Syriens zu Handlangern Washingtons gemacht, ihre Unabhängigkeit aufgegeben und seien zu Bodentruppen des Imperialismus verkommen. In einem Interview mit dem Lower Class Magazine im Januar 2017 erklärte Cemîl Bayik, Kovorsitzender der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans und einer der ranghöchsten PKK-Funktionäre, darauf angesprochen, es stimme ihn »traurig, von solchen Wertungen zu hören«. Zu behaupten, »Rojava steht unter dem Einfluss der Imperialisten«, sei schlicht falsch. Der IS sei ein »Feind der Menschheit«. Die Miliz sei der dunkelste Faschismus. (…) Aus diesem Grund kam es zu einem Zusammenschluss aller Kräfte unabhängig von ihren Meinungen, Glauben, Ideologien – wie im Zweiten Weltkrieg gegen den Faschismus.» Es handele sich lediglich um eine «Interessengemeinschaft», die «in einem konkreten Fall entstanden ist». Die militärische Kooperation bedeute mitnichten «dass die USA die legitime Politik der Revolution in Rojava unterstützen würden», vielmehr erhielte die Türkei von den Vereinigten Staaten «teilweise immer noch Rückendeckung» gegen die Revolution. Auch heute hindert die Präsenz eines kleinen Truppenkontingents von US-Soldaten die türkische Luftwaffe nicht daran, nahezu wöchentlich die selbstverwalteten Gebiete von US-kontrolliertem Luftraum über dem Osteuphrat unter Beschuss zu nehmen.
Während der Widerstand den Anstoß für eine internationale Solidaritätsbewegung gab und auch das militärische Bündnis mit den Interventionsmächten entstehen ließ, wurde in Kobanê auch der Grundstein für das kurz danach ins Leben gerufene arabisch-kurdisch-assyrische Militärbündnis der «Syrischen Demokratischen Kräfte» (SDK) gelegt. In der Folge gelang der multiethnischen Allianz nicht nur der Zusammenschluss der zuvor getrennten Kantone der Selbstverwaltung, sondern im Frühjahr 2019 auch die territoriale Zerschlagung des selbsternannten Kalifats.
Der Kampf um Kobanê sorgte hierzulande dafür, dass sich die Wahrnehmung der kurdischen Bewegung in der Öffentlichkeit radikal veränderte. In der deutschen Linken, wo die kurdische Frage seit Ende der 1990er Jahren weitgehend in Vergessenheit geraten war oder gekonnt ignoriert wurde, lösten die Kämpfe 2014 eine Welle der Solidarität aus. Hunderte internationalistische Freiwillige aus Deutschland haben sich seither auf den Weg gemacht, um die autonomen Gebiete in Nord- und Ostsyrien zu unterstützen und auch militärisch an der Verteidigung der Revolution teilzuhaben. Selbst in der bürgerlichen Öffentlichkeit löste nicht nur der Kampf um Kobanê, sondern auch der von der PKK geführte Abwehrkampf im Nordirak, der im August 2014 die jesidische Bevölkerung vor der vollständigen Vernichtung durch den IS bewahrte, eine rege Debatte über die Aktualität des PKK-Verbots aus. Der heutige Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) sprach sich im August 2014 dafür aus, die Aufhebung des PKK-Verbots «nicht zum Tabu (zu) erklären». Die Taz zitierte Özdemir am Rande einer Klausurtagung des bündnisgrünen Parteivorstandes. Zwar sei er selbst ein «scharfer Kritiker der PKK», doch müsse man angesichts des IS-Terrors anerkennen, dass es sich bei der PKK um eine säkulare Bewegung handele. Der damalige stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion Andreas Schockenhoff schloss sogar Waffenlieferungen an die PKK nicht grundsätzlich aus. Es müsse «zuallererst um den Schutz vor Pogromen» gehen, «um das Überleben von Menschen», sagte der CDU-Politiker damals gegenüber der FAZ.
Wieder allein
Angesichts der Tatsache, dass die deutschen Behörden heute sogar Flaggen und Symbole der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten, die den Sieg über den «Islamischen Staat» errungen haben, kriminalisieren, Dutzende kurdische Politiker wegen vermeintlicher Kadertätigkeit für die PKK in deutschen Gefängnissen einsitzen und die kurdische Community auch hier in Deutschland permanenter Bespitzelung und Überwachung ausgesetzt ist, scheint diese Debatte von 2014 wie ein Echo längst vergangener Zeit. Auch in Syrien haben sich die Verhältnisse geändert. Zehn Jahre nachdem die Welt mit den kurdischen Kämpferinnen und Kämpfern gefiebert hatte, steht die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien mehr oder weniger alleine vor den Herausforderungen der Zeit. Nicht nur, dass der «NATO-Partner» Türkei freie Hand hat, in regelmäßigen Abständen die Infrastruktur der Region in Schutt und Asche zu legen und immer wieder neue Regionen in Nord- und Ostsyrien zu überfallen. Auch mit den Zehntausenden IS-Gefangenen, darunter viele ausländische Kämpfer, die noch immer in nordsyrischen Gefängnissen und Lagern einsitzen, werde man alleine gelassen, beklagte sich jüngst die Außenbeauftragte der Selbstverwaltung Îlham Ehmed in einem Interview gegenüber Zeit online. Vor dem Hintergrund der immer weiter entgleisenden Debatte um Islamismus und Migration in Deutschland ist es mehr als lohnenswert, sich noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, wer den Blutzoll im Kampf gegen den IS geleistet hat und welcher «NATO-Partner» Islamisten aller Couleur mindestens Freifahrtscheine gewährt und es zudem an aktiver Schützenhilfe für Dschihadisten niemals hat missen lassen.
Tim Krüger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 15. August über den Beginn des bewaffneten Aufstands in Kurdistan gegen die türkische Staatsmacht vor 40 Jahren.
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