Rotlicht: Systemtheorie
Von Marc PüschelEin Philosophieren ohne System, so sagt Hegel, könne nichts Wissenschaftliches sein. Eine Systemtheorie hatte er gleichwohl nicht, denn für Hegel, wie für die meisten Denker vor dem 20. Jahrhundert, war System noch etwas Singuläres, das er darum auch lieber als Ganzes, Totalität oder Absolutes anspricht. Erst ab den 1940er Jahren entwickeln sich Theorien, die den Begriff im Plural fassen, als Theorien von Systemen.
Weltanschaulich mag dabei der aufkommende Kalte Krieg, also das Zeitalter der Systemkonkurrenz, eine Rolle gespielt haben. Einen direkteren Einfluss dürfte jedoch der »traditionelle« Krieg gespielt haben. Der Mathematiker Norbert Wiener arbeitete während des Zweiten Weltkriegs an dem Problem automatischer Zielsteuerung von Flugabwehrgeschützen. Darauf aufbauend begründete er nach 1945 die Kybernetik als Wissenschaft der Steuerung und Selbstregulierung von Maschinen. Ihre entscheidende Frage drehte sich darum, wie eine Maschine Informationen von außen verarbeiten, in ihre Funktionsweise übersetzen und in Ergebnisse, Produkte oder Handlungen umwandeln kann. Rückkopplung und Selbstregulation wurden zu zentralen Schlagwörtern – das einfachste Beispiel ist ein Thermostat, das einen Heizkörper an die Raumtemperatur anpasst.
Dabei legen die Informationsaufnahme von außen und ihre Umwandlung in Handlungen die Analogie zum menschlichen Geist und allgemeiner zur Struktur biologischer Lebewesen nahe. Die berühmten jährlichen Macy-Konferenzen von 1946 bis 1953, auf denen die Kybernetik weiterentwickelt wurde, waren daher interdisziplinär ausgerichtet und brachten Ingenieure, Neurowissenschaftler, Mathematiker und Biologen an einen Tisch. Auch der Ausdruck »Systemtheorie« selbst stammt von einem Biologen, dem Österreicher Karl Ludwig von Bertalanffy, der an den Fragen forschte, wie sich biologische Systeme trotz schwankender Umwelteinflüsse im Gleichgewicht halten.
In einem abstrakten Sinne kann also fast alles als System verstanden werden, ein Tierkörper, das menschliche Denken, ein Computer oder ganze Gesellschaften. Entsprechend schnell spaltete sich in der Folge die Kybernetik als ursprünglich einheitliche Systemtheorie in eine Vielzahl neuer Disziplinen wie etwa die Computer- und Kognitionswissenschaften auf, die sich mit jeweils besonderen Systemen befassen. Am berühmtesten wurde der Begriff der Systemtheorie in der Soziologie, in der Niklas Luhmann sie zu einer umfassenden Gesellschaftstheorie ausarbeitete.
Für Luhmann ist die Gesellschaft ein soziales System, das in der funktionalen Ausdifferenzierung von Teilsystemen wie Recht, Politik, Ökonomie oder Kunst besteht. Für jedes System wird alles außerhalb Befindliche zur Umwelt. Diese System-Umwelt-Differenz ist laut Luhmann das entscheidende Paradigma des modernen systemtheoretischen Denkens. Er selbst fügt ein weiteres hinzu: Soziale Systeme seien »autopoietisch«. Dieses Kunstwort stammt von dem Kognitionsbiologen Humberto Maturana und lässt sich mit »Selbsterzeugung« übersetzen. Für Luhmann schafft und erhält sich jedes System selbst, indem es seine eigene spezifische Funktionsweise gegenüber »störenden« Umwelteinflüssen aufrechterhält und dank dieser Funktionsweise die Komplexität aller Einflüsse derart reduziert, dass sie verarbeitet werden können. Das Teilsystem Wirtschaft etwa bemisst alles nur nach seinem systeminternen Kriterium, dem Tauschwert. Für Luhmann liegt darin nichts Irrationales, sondern nur eine neutrale Beobachtung dessen, was alle Systeme als Systeme kennzeichnet. Entsprechend bemesse die Politik alles nach dem Maßstab der Macht, die Moral alles nach dem Schema gut/böse, das Recht alles nach dem geltenden Gesetz usw.
Nicht zu Unrecht hat Jürgen Habermas dem lange als Verwaltungsbeamten arbeitenden Luhmann ein technokratisches Verständnis von Gesellschaft vorgeworfen. In dem Gedanken, dass jedes Teilsystem seine eigene Rationalität und seine eigenen Maßstäbe habe, geht der Gedanke, es könne ein übergeordnetes vernünftiges Ganzes geben, unter. Die Theorie von Systemen lässt keinen Platz mehr für ein System.
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