Rote Linien austesten
Von Reinhard LauterbachOffiziell wurde über Inhalt und Ergebnis der Gespräche der Außenminister Großbritanniens und der USA – David Lammy und Antony Blinken – mit der ukrainischen Führung am Mittwoch nichts bekanntgegeben. Aber es ging offenkundig um das ukrainische Drängen, von beiden Waffenlieferanten die Erlaubnis zu erhalten, weitreichende Raketen auch gegen Ziele im tiefen russischen Hinterland einzusetzen. Und Blinken tat vor seiner Weiterreise nach Polen alles, um die Spannung und Unsicherheit aufrechtzuerhalten. Die USA seien immer bereit, ihre Strategie »anzupassen«, wenn sich neue Situationen ergäben, etwa Raketenlieferungen aus dem Iran an Russland.
Über solche neuen Lieferungen von Kurzstreckenraketen im Tausch gegen Weizen und Sojabohnen aus Russland hat es in den vergangenen Tagen verschiedene Berichte gegeben. Blinkens Verknüpfung der Frage mit dem Thema der iranischen Waffenlieferungen deutet an, dass die USA solche Schläge nicht sofort freigeben wollen, sich dies aber vorbehalten. Im Vorfeld des Blinken-Besuchs meldeten verschiedene US-Medien, die Regierung überdenke gerade ihre bisher ablehnende Haltung diesem Eskalationsschritt gegenüber. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij übergab seinen Besuchern jedenfalls eine Liste mit möglichen Zielen im Inneren Russlands, die die Ukraine mit den Raketen angreifen könne und wolle.
Bei der Gelegenheit wies Selenskij in ziemlich undiplomatischer Form den chinesisch-brasilianischen Friedensplan zurück, da dieser einen Waffenstillstand entlang des aktuellen Frontverlaufs vorsieht. »Wir sind nicht so blöd, nicht zu merken, dass dieser Plan mit Russland abgesprochen ist«, so Selenskij wörtlich.
An diesem Freitag wollen US-Präsident Joseph Biden und der britische Premier Keith Starmer ebenfalls über das Thema der Freigabe der Raketen für Angriffe gegen Russland beraten. Ukrainische Medien spekulierten, ob Biden vielleicht die Briten voranschicken will, ihre »Storm Shadow«-Marschflugkörper für solche Angriffe freizugeben. Die Regierung in London hat in dieser Frage seit langem geringere verbale Zurückhaltung gezeigt als die USA.
Bei einem weiteren Anhänger der Freigabe solcher Angriffe war Blinken am Donnerstag zu Gast. In Warschau traf er sich mit seinem Amtskollegen Radosław Sikorski, Staatspräsident Andrzej Duda und Premierminister Donald Tusk. Sikorski gab nach dem Treffen an, sein Land sei dafür, der Ukraine die »vorbeugende Verteidigung gegen russische Kriegsverbrechen« zu ermöglichen. Blinken blieb allgemeiner und sprach nur davon, dass die USA ihre Unterstützung für Kiew an den Intensitätsgrad der russischen Kriegführung anpassten.
Zu der ganzen Diskussion auf seiten der NATO äußerte sich auch Außenminister Sergej Lawrow am Donnerstag bei einem Botschaftertreffen in Moskau. Er sei sich sicher, dass die Entscheidung für die Freigabe der Angriffe auf innerrussische Ziele im Prinzip bereits gefallen sei. Sein Land werde auf solche Angriffe zu antworten wissen. Einer seiner Berater, der Politologe Sergej Karaganow, wurde in einem Interview mit der Moskauer Zeitung Kommersant deutlicher. Er sprach sich klar dafür aus, die nukleare Einsatzschwelle zu senken und taktische Nuklearschläge auch im Falle starker westlicher Angriffe auf zivile und politische Ziele in Russland vorzusehen – etwa den Kreml. Die bisherige Nukleardoktrin, die im wesentlichen einzig Zweitschläge zulässt und eine existentielle Gefährdung des russischen Staates voraussetzt, reiche nicht mehr aus.
Karaganow vermied es jedoch, den für diese Strategie politisch verantwortlichen Wladimir Putin direkt zu kritisieren. Seine Einschätzung machte er jedoch klar, dass nämlich die bisherige Doktrin von »Illusionen der achtziger Jahre« geprägt sei, durch die sich Russland selbst die Hände gebunden und dem Gegner die konventionelle Eskalation freigestellt habe. Als mögliches Ziel eines russischen Angriffs nannte Karaganow ausdrücklich auch das Reichstagsgebäude in Berlin. Das solle ruhig brennen. Die Deutschen seien schnell dabei, ihre furchtbaren Verbrechen zu vergessen, und es sei an der Zeit, sie an diese offene Rechnung zu erinnern.
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Pistorius als unerklärlicherweise beliebtester Politiker Deutschlands, schlägt es in den Wind, Putin habe mehrfach rote Linien nicht ernst gemeint. Wie lange können wir uns darauf verlassen, wie lange will NATO und USA die Linien testen, Deutschland allen voran? Bauen wir längst auf Russlands Schwäche, träumen vom militärischen Sieg auf ganzer Linie? Imperialistischem Wesen entspricht es. Russland drohe seit langem mit Atomwaffen. NATO, USA, Westen haben seit langem Verträge aufgekündigt, reden offen von ihrer nuklearen Abschreckung und die USA haben schließlich als einzige ihren Willen zum bedenkenlosen Einsatz der Atombombe unter Beweis gestellt. Weiß das die Welt nicht mehr? Wem ist mehr an Vernunft, Verstand und Willen zum Frieden zuzutrauen? Es geht um mehr als Austesten auf dem Schulhof wenn geschubst, getestet wird, bis einer zuschlägt. Da kann es blutige Nasen geben, jetzt geht es um mehr. Wie ernst nehmen es die Menschen im Lande?