Ab in den Abgrund
Von Marc HieronimusDie Sucht nach immer mehr Geld und Macht als Ursache von Krieg und Zerfall der Gesellschaften sei eine anthropologische Konstante und durchziehe »das gesamte politische Denken von Solon, Herodot, Thukydides, Platon und Aristoteles über Machiavelli, Hobbes und Rousseau bis in die Gegenwart«, schreibt der Psychologe Rainer Mausfeld in seinem Werk »Hybris und Nemesis«.
Um die These von der ererbten »Pleonexie«zu untermauern, geht er bis zur Ur- und Frühgeschichte zurück. Von seiner Veranlagung her sei der Mensch einerseits ein Mangelwesen. »Es mangelt ihm an natürlichen Mechanismen der Selbstregulierung seines Potentials zu einem parasitären Mehrhabenwollen. Bezieht man jedoch auch die andere Seite dieser Doppelnatur mit ein, so ist er tatsächlich jedoch ein ›Überschusswesen‹. Er verfügt über eine Befähigung zur Moralität und zur kreativen kulturellen Ausbildung sozialer Normen und Werte.«
Seit mit dem Weizenanbau die Möglichkeit zur Akkumulation von Reichtum und damit Macht besteht, haben die Gesellschaften sehr unterschiedliche Möglichkeiten gefunden, um individuelles Machtstreben zu beschränken. Mehr als ein Drittel des Buchs widmet sich den Zivilisationen von Cucuteni-Tripolje und Çatalhöyük über Mesopotamien, Ägypten und China bis zu den Reformen von Solon und Kleisthenes im 6. Jh. v. u. Z. Das ist informativ und wartet mit einigen Überraschungen auf. »Niemand im antiken Athen hatte die Absicht, eine Demokratie zu etablieren«, heißt es etwa über die Jahre ihrer Erfindung. Vielmehr sei es nur darum gegangen, die Ordnung und den inneren Frieden der Stadt wiederherzustellen, die vom Aufruhr der verschuldeten und versklavten Bürger erschüttert wurde.
Vom Beginn der Neuzeit bis Ende des 18. Jahrhunderts galt Demokratie als »Pöbelherrschaft«, dann entdeckten die Gründerväter der USA den Wohlklang des Wortes und erfanden die »repräsentative« Spielart, um gemeinschaftliche Entscheidungen insbesondere über Besitz und seine Verwendung für immer zu verhindern. Dieser durch massenmediale Propaganda gestützte Wortbetrug verschleiert seither die wahren Machtverhältnisse und dient der Revolutionsprophylaxe.
Mit dem Neoliberalismus sieht Mausfeld, angelehnt an Sheldon S. Wolin, die kapitalistischen »Zuschauerdemokratien« in Formen autoritärer und totalitärer Herrschaft umschlagen. Motor sei die heute herrschende Markttheologie, die als radikale Gegenaufklärung und »intellektuelle Pathologie« zu deuten sei. Der Neoliberalismus ziele darauf, »dem gesellschaftlichen Projekt der Aufklärung ein für alle Mal ein Ende zu bereiten und dessen grundlegende Konzepte, insbesondere Vernunft, Freiheit und Autonomie, als Mythen zu entlarven. Ihm zufolge könne nur der Markt frei sein, nicht aber der Mensch, der sich an die ›Naturgesetzlichkeiten‹ des Marktes anpassen müsse.«
Drei Kritikpunkte an dem durchaus bereichernden Buch: Mausfeld ist sicher kein Volksaufklärer, wie die NZZ ihn laut Klappentext nennt, dafür ist das Buch zu dick, zu gelehrt und viel zu wenig konkret, anders als etwa die Werke der von ihm viel zitierten Noam Chomsky und David Graeber. Trotz 30 Seiten Literaturverzeichnis vermisst man einige Autoren, etwa Antonio Gramsci oder Wilhelm Reich.
Das Konzept der Verwirrung durch Entleerung und Uminterpretation politischer Begriffe hat Bertrand Méheust unter dem Schlagwort Oxymoronpolitik behandelt. Dany-Robert Dufour hat genauer untersucht, wie von Pascal über Locke bis hin zu Bernard Mandeville das Mehrhabenwollen und die Herrschsucht von ihrem negativen Ruf befreit und geradewegs zu Tugenden erklärt wurden. Drittens bleibt das Fazit – wie allerdings fast immer bei klugen Büchern über den systematischen Niedergang und die begonnenen Katastrophen – sehr vage: Man solle »sagen, was ist«. Aber woher soll man das in Zeiten immerzu wachsender Medienkontrolle und Propaganda wissen? Und wer kann, darf, will noch zuhören?
Rainer Mausfeld: Hybris und Nemesis. Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt – Einsichten aus 5.000 Jahren. Westend-Verlag, Frankfurt am Main 2023, 512 Seiten, 36 Euro
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