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Aus: Ausgabe vom 13.09.2024, Seite 12 / Thema
Musikgeschichte

Wie der Gedanke wirklich wird

Erfinder der Zwölftontechnik. Vor 150 Jahren wurde der Komponist Arnold Schönberg geboren
Von Kai Köhler
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Arnold Schönberg (1874–1951) beim Dirigieren des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (undatierte Aufnahme)

Die Wertung scheint unmissverständlich. Nach vierzig langen Tagen kehrt Moses mit Gesetzestafeln in der Hand zu seinem jüdischen Volk zurück, geleitet von der Idee eines »einzigen, ewigen, unsichtbaren und unvorstellbaren« Gottes. Da aber sieht er die Leute, verführt von seinem Bruder Aron, um eine goldene Kalbsfigur herumtanzen. Götzendienst schlägt Wahrheit.

Nun wäre Arnold Schönbergs biblische Oper »Moses und Aron« ein ödes Unterfangen, wäre sie Denunziation einer Verfälschung. Geht Wahrheit ohne Konkretion zu vermitteln? Kann überhaupt die Idee ohne das Wirkliche bestehen, das Allgemeine ohne das Besondere? »O Wort, du Wort, das mir fehlt«, mit dieser Klage Mosesʼ bricht der komponierte Teil des vollständigen Operntexts ab. Der Gedanke, um wirksam zu werden, braucht den Propagandisten; und als solcher ist Aron tatsächlich begabt. Er will ja kein Verräter sein, sondern Moses nach bestem Gewissen dienen. Dies aber macht die Sache noch schlimmer, denn Moses muss lernen, dass die Idee nicht ohne den Bruder auskommt, der die Idee zerstört.

Und nicht zu vergessen, es handelt sich um eine Oper, wenn auch um eine, deren Komposition Schönberg unterbrach und die unvollendet blieb. Die musikalische Gattung zielt auf eine Umsetzung auf der Bühne. Die Idee muss, jeden Abend, zum sinnlichen Erlebnis werden. Tatsächlich war Schönberg Praktiker genug, dies zu berücksichtigen. Der von Aron organisierte Tanz um das goldene Kalb wurde denn auch zu einem umfangreichen und wohl zum einprägsamsten Teil der Partitur. Allgemeiner formuliert: Kein Komponist kann sich auf das Ewige, Unvorstellbare zurückziehen.

Das Wichtigste in einem Kunstwerk

In seinem Vortrag »Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke« bezeichnet Schönberg den Gedanken als »das Wichtigste in einem Kunstwerk«. Eine Definition des Begriffs findet man in seinen zahlreichen Vorträgen und Schriften allerdings nicht. Doch erschließt sich der Inhalt aus den Zusammenhängen, in denen von »Gedanke« die Rede ist. Es handelt sich um eine Idee des musikalischen Kunstwerks als Ganzem, die der Komposition der Einzelheiten vorangeht. Alle diese Einzelheiten dienen dazu, dem Gedanken die Gestalt zu geben, in der er erklingt.

In diesem Zusammenhang steht die Forderung nach Konzentration: »In vielfältigem Sinne braucht Musik Zeit. Sie braucht meine Zeit, sie braucht deine Zeit, sie braucht ihre eigene Zeit. Es wäre höchst ärgerlich, wenn sie nicht bestrebt wäre, in jedem Bruchteil dieser Zeit die wichtigsten Dinge in konzentriertester Weise zu sagen.« Tatsächlich gibt es in Schönbergs Musik nur in Ausnahmefällen wörtliche Wiederholungen. Nicht nur bringt fast jede Fortführung eine neue Variante, sondern die Entwicklungen, die zum Neuen führen, sind auf verschiedene Stimmen verteilt und erklingen beinahe gleichzeitig.

Gegenmoment ist die Forderung nach Fasslichkeit. Schönberg tut viel, um auch diese zu erreichen. Er verzichtet auf Füllstimmen, die Opulenz herzeigen, ohne zur Deutlichkeit des Gedankens beizutragen. Seine Instrumentation ist von beispielhafter Klarheit. Das gilt schon dort, wo er im Frühwerk ein spätromantisches Riesenorchester beschäftigt. Es gilt ebenso in seinen Zwölftonwerken und zeigt sich, wenn er Orgelwerke von Johann Sebastian Bach oder das 1. Klavierquartett von Johannes Brahms orchestriert, um alle Stimmen klangfarblich hervorzuheben und sie dadurch erst wahrnehmbar zu machen.

Dennoch ist Fasslichkeit bei Schönberg oft durch Komplexität gefährdet. Ohnehin mag diese Forderung verwundern bei einem Komponisten, dessen Werke nicht eben für einfache Zugänglichkeit stehen. »Atonalität«, »Zwölftonmusik« – das sind Schlagworte, die ein vorurteilsloses Hören zusätzlich erschweren. Schönberg selbst hat sich immer gegen die Behauptung gewendet, er komponiere atonal. Nur organisierte er die Töne anders als nach den Vorgaben der für einige Jahrhunderte in Europa vorherrschenden Dur-Moll-Tonalität. Beruhte diese Organisation auf je nach Tonart unterschiedlichen Leittönen, so ist die Mehrzahl von Schönbergs späteren Werken von seiner Methode der »Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen« geprägt.

Dazu ist dreierlei wichtig. Die prinzipielle Gleichrangigkeit der Töne, die auf kein Zen­trum mehr bezogen sind, beseitigt innerhalb der Methode den Unterschied zwischen Konsonanz und Dissonanz. Dies besagt noch nichts hinsichtlich der Wahrnehmung durch die Hörer. Diese aber ist ihrerseits historisch bedingt. Akkorde, die um 1800 als greller Missklang empfunden wurden, sind zweihundert Jahre später allenfalls ein Nervenkitzel. Was heute als Filmmusik gebräuchlich ist, wenn die Untoten ihre hässlichen Finger ausstrecken, ist nicht weniger dissonant als Schönbergs harmonisch kühnste Stellen. Die Schwierigkeit, die »Zwölftonmusik« noch in der Gegenwart bereitet, ist nicht durch Dissonanzen begründet, sondern durch die Komplexität der Schönbergschen Durchführungstechnik und dadurch, dass die Motive für Ohren, die immer noch an herkömmliche Tonalität gewöhnt sind, wenig prägnant erscheinen.

Zweitens hat Schönberg immer wieder betont, dass die Methode kein Selbstzweck ist. Tatsächlich dürfte nach ein wenig Kompositionsstudium jeder in der Lage sein, eine Zwölftonreihe hinzuschreiben und sie mit bestimmten Techniken zu variieren. Ein Kunstwerk entsteht daraus noch nicht. Kunst bleibt für Schönberg der Gedanke, der Gestalt wird. Eine Kompositionsmethode ist dabei nur eines der möglichen Mittel, der Gestalt Prägnanz, Fasslichkeit zu verleihen. Einen Wert habe das Ergebnis nur, wenn der Gedanke Ausdruck einer Künstlerpersönlichkeit sei, die etwas Neues zu sagen habe.

Daraus ergibt sich drittens, dass unterschiedliche Persönlichkeiten unterschiedliche Methoden wählen müssen, das je Eigene fasslich zu machen. Während seines Exils in den USA freundete sich Schönberg mit George Gershwin an, der völlig anders komponierte. Gershwin äußerte den Wunsch, bei Schönberg die Zwölftontechnik zu lernen. Schönberg lehnte ab, denn er erkannte, dass Gershwin schon über alle Mittel verfügte, die eigenen Gedanken hörbar zu machen, und dass jegliche Komplikation die Fasslichkeit beschädigen würde.

Geschichtsphilosophie ist mit einem solchen Herangehen nicht zu haben. Zum wirksamsten Propagandisten Schönbergs in der frühen Bundesrepublik wurde Theodor W. Adorno mit seiner »Philosophie der neuen Musik«. Adorno entwickelte das ästhetische Ideal von Negation und Kommunikationsverweigerung als einzig mögliche Opposition im Spätkapitalismus und begründete so die historische Notwendigkeit der Zwölftontechnik. In Schönbergs Denken dagegen spielten Kapitalismus oder gar Spätkapitalismus keine Rolle. Noch weniger ging es ihm um Kommunikationsverweigerung.

Hat Schönberg das Neue seiner neuen Musik verstanden? Darauf verweist eine Anekdote, die er selbst berichtet. Während seines Kriegsdienstes im Ersten Weltkrieg sei er gefragt worden, ob er wirklich jener berüchtigte Komponist Schönberg sei. Ja, habe er geantwortet, »Einer hat es sein müssen, keiner hat es sein wollen, so habe ich mich dazu hergegeben.« Dass überhaupt einer es hat sein müssen, verweist auf eine musikgeschichtliche Folgerichtigkeit. So war es Schönberg wichtig, sein Neues als Konsequenz des Alten zu begründen. In Vorträgen und Aufsätzen hat er sich immer wieder auf Bach, Mozart, Beethoven, Wagner und Brahms bezogen. Als Kompositionslehrer stellte er, wie sich Hanns Eisler als einer seiner Schüler erinnert, nicht eigene Werke vor, sondern zeigte, wie Bach, Beethoven und Brahms formale Probleme lösten.

Das Erbe

Schönbergs Neuerungen erschreckten das Publikum. Eine Veranstaltung in Wien am 31. März 1913, auf der neben Werken von Schönbergs bis heute unterschätztem Lehrer Alexander Zemlinsky und Kompositionen der Schönberg-Schüler Alban Berg und Anton Webern auch die 1. Kammersinfonie auf dem Programm stand, wurde von Beginn an von Zwischenrufen und Gejohle unterbrochen. Die Drohung Schönbergs, Störer gewaltsam entfernen zu lassen, förderte noch den Tumult. Mobiliar ging zu Bruch, aus Gründen ging die Sache als »Watschenkonzert« in die Musikgeschichte ein.

Aber nicht der Schock war Schönbergs Ziel: »Eine der sichersten Methoden, Aufmerksamkeit zu erregen, ist, etwas zu tun, was vom Üblichen abweicht, und wenige Künstler haben das Rückgrat, dieser Versuchung zu entgehen. Ich muss bekennen, dass ich zu jenen gehörte, denen nicht viel an der Originalität lag. Ich pflegte zu sagen: ›Ich versuchte immer, etwas ganz Konventionelles zu schaffen, aber es misslang mir, und gegen meinen Willen wurde es immer etwas Ungewöhnliches!‹«

Dabei hob er das von seinen Vorgängern Erreichte auf eine neue Ebene. Hier überschneidet sich in seiner Sicht, zunächst, zweierlei. Das eine ist ein individualistischer Geniekult: Der große einzelne tritt in einen Dialog mit seinen großen Vorgängern (wobei Schönberg wenig Zweifel hatte und ließ, dass er einer dieser Großen war). Das andere ist ein Blick auf Musikgeschichte (nicht auf Geschichtsphilosophie). Wo Jahrzehnte an Entwicklungen etwas vorbereitet haben, steht ein Umschlag in eine neue Qualität an.

Wäre die Bezeichnung nicht politisch vergiftet, könnte man Schönberg als konservativen Revolutionär bezeichnen. Er bewahrte das Erbe durch Erneuerung. Dies gelang auf einer ersten Stufe um 1900. Gemeinsam mit dem nur drei Jahre älteren Zemlinsky brachte er zusammen, was zwanzig Jahre zuvor noch als unvereinbar galt: Kompositionstechniken von Wagner und Brahms.

Wagner (und Franz Liszt) hatten die überkommene Harmonik bis an die Grenzen des innerhalb dieses Systems Möglichen entwickelt. Brahms hatte etwas geschaffen, was Schönberg in einem Vortrag Jahrzehnte später als »musikalische Prosa« bezeichnete. Seine Phrasierung orientierte sich nicht mehr an regelmäßigen Vier- oder Achttaktgruppen, sondern war unregelmäßige Klangrede innerhalb dieser Gruppen oder über sie hinausgreifend. Damit schaffte sie Floskeln ab, die nur einer Forderung nach Gleichmaß geschuldet waren, und ermöglichte ein hohes Maß an musikalischer Konzentration.

Werkgeschichte

Die »entwickelnde Variation«, wie Schönberg sie von Brahms übernahm und radikalisierte, weist immer weniger wörtliche Wiederholungen auf. Zusammen mit Wagners Harmonik führte dies, musikgeschichtlich konsequent, zu der Auflösung der bisherigen musikalischen Sprache und zu ihrer Aufhebung in etwas Neuem. Dabei wäre es falsch, allein die Konsequenz des Materials als notwendige Ursache für eine notwendige Folge zu setzen. Andere Komponisten kamen in der gleichen Problemlage zu anderen Lösungen als Schönberg, und wieder anderen gelang es, auch im Rahmen der alten Grammatik noch Neues zu sagen.

Bei Schönberg aber war es der an seine Person gebundene Gedanke, der seinen immer genaueren Ausdruck fand. Die Reihe der großen Werke aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts verdeutlicht, wie Schritt für Schritt aus der Synthese Brahmsscher und Wagnerscher Errungenschaften das Neue entstand: von dem Streichsextett »Verklärte Nacht« (1899) über die sinfonische Dichtung »Pelleas und Melisande« (1902/03), das 1. Streichquartett (1904/05) und die 1. Kammersinfonie (1906) bis zum 2. Streichquartett (1908) und den Klavierstücken op. 11 (1909/10). Jedes dieser Werke ist, bei allem Eigenwert, die Kritik des je vorangegangenen, bis schließlich die Wegstrecke zurückgelegt ist vom spätromantischen Gefühlsprotokoll zu einer Musik, die von einer prinzipiell neuen Sprache bestimmt ist.

Dieser Umschlag von Quantität in Qualität löst aber nicht das Problem, wie in dieser neuen Sprache verständlich zu sprechen geht. Die eine mögliche Folge ist die Verkürzung. Die Klavierstücke op. 19 dauern insgesamt nur knapp sechs Minuten, die Nr. 6 als das kürzeste von ihnen umfasst nur neun Takte. In solcher Konzentration ist alles gesagt, auch würde ein Mehr die Aufnahmefähigkeit der Hörer überfordern. Wo Schönberg in dieser Phase deutlich längere Werke schreibt, da stellt ein Text die Einheit her, wie im Operneinakter »Die Erwartung« (1909) und in dem größtenteils 1916/17 komponierten Fragment zu dem Oratorium »Die Jakobsleiter«.

Auf die Dauer aber braucht Musik ein musikalisches Organisationsprinzip. Eben dies leistete die Technik der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen. Die ersten umfangreichen Werke dieser Phase wirken, bei aller Ausdrucksgewalt, ein wenig wie das Herzeigen aller Möglichkeiten, die in der neuen Methode liegen. Angesichts der rücksichtslosen Polyphonie und einer Konzentration des Materials, die bei auch nur ein wenig unkonzentriertem Hören das Geschehen eintönig erscheinen lässt, erfordern Werke wie das Bläserquintett (1923/24) oder das 3. Streichquartett (1927) mehrfache und aufmerksame Zuwendung.

Später geht Schönberg mit seiner Methode freier um. In zwölftönigen Hauptwerken wie dem 4. Streichquartett (1936), dem Violin- (1936) und dem Klavierkonzert (1942) sowie dem Streichtrio (1946) ist der Satz gelockert, sind die Reihen flexibler gehandhabt und sorgt ein relativ stabiler Rhythmus dafür, dass trotz sehr schnell entwickelter Variation der Bezug auf ein Zentrum wahrnehmbar bleibt. In diesem letzten Schaffensabschnitt griff Schönberg auf alle Mittel zurück, über die er je verfügt hat. So beendete er 1939 die 1906 begonnene, tonale 2. Kammersinfonie und schrieb er für US-amerikanische Blasorchester »Theme and Variations« (1943).

Schönberg begriff seine Kunst als Ausdruck individuellen Schöpfertums, und tatsächlich ist diese Individualität hörbar von dem nicht in den offiziellen Werkkanon aufgenommenen, früh und erfolgreich aufgeführten Streichquartetts D- Dur bis zu den letzten Kompositionen. Zugleich ist unverkennbar, dass die Werkentwicklung nicht außerhalb der Kulturgeschichte steht. »Verklärte Nacht« und »Pelleas und Melisande« sind im Rückblick der spätromantischen Ausdrucksästhetik nicht fremd. Die Klavierminiaturen op. 19 entsprechen extrem verknappten expressionistischen Gedichten. Der Wechsel zu Zwölftontechnik ab Anfang der 1920er Jahre ist mit einer Abkühlung des Tons verbunden, zu der es Entsprechungen zu der von Schönberg gleichwohl abgelehnten Neuen Sachlichkeit gibt. Avantgardeexperimente zurückzunehmen, allgemeinverständlich zu komponieren – dies war in den 1930er Jahren nicht nur in der Sowjetunion eine Folge des Sozialistischen Realismus, sondern stand – auch ohne politische Anweisung – Tendenzen im westlichen Musikleben nahe.

Dies zu bemerken, schmälert die Bedeutung der Werke keinesfalls. Auch verschwand die besondere Individualität Schönbergs keineswegs im allgemeinen. Bläserquintett und 3. Streichquartett weisen einen Tonfall auf, der vom Neoklassizismus Strawinskys weit entfernt ist; die 2. Kammersinfonie klingt anders als publikumsorientierte Kompositionen, die unter entgegengesetzten gesellschaftlichen Voraussetzungen und zu verschiedenen Zwecken zeitgleich in der Sowjetunion und den USA entstanden. Nur zeigt es eben, dass auch der größte Einzelne durch seine Gegenwart geprägt wird.

Antisemitisch verfolgt

Das gilt auch in politischer Hinsicht. Schönberg, in Wien als Jude geboren, ließ sich 1898 protestantisch taufen. Wie bei allem, was er tat, dürfte nicht eine Karriere das Ziel gewesen sein. Dafür wäre in Österreich der Katholizismus zweckmäßiger gewesen. Der Protestantismus entspricht zudem dem Gott Moses’ der späteren Oper: unsinnlich, nur in der Schrift manifestiert. Jedenfalls verstand sich der Protestant Schönberg – bei allem Antisemitismus, den er in Wien erleben musste – als deutscher Komponist. Noch mit der Zwölftontechnik meinte er die Vorherrschaft der deutschen Musik für ein weiteres Jahrhundert gesichert.

Die deutschesten Deutschen freilich mochten davon nichts wissen. Das zeigte nicht nur der völkische Flügel der Musikkritik, sondern es hatte lebenspraktische Folgen. Zum Schlüsselereignis wurde im Sommer 1921 ein Ferienaufenthalt im österreichischen Mattsee. Die Absicht des Fremdenverkehrsvereins, den Badeort »judenrein« zu halten, führte zur Vertreibung Schönbergs und seiner Familie. Zwar eröffneten sich ihm weiterhin Möglichkeiten. 1925 übernahm er in Berlin an der Preußischen Akademie der Künste einen Meisterkurs für Komposition. Doch schon dies rief Proteste völkischer Kreise hervor. So angesehen Schönberg, oberflächlich betrachtet, war: Fortan hatte er verstanden, welche Gefahr ihm und allen Juden drohte.

Die antisemitisch begründete Entlassung aus seiner Berliner Stellung 1933 konnte ihn denn auch nicht mehr verwundern. Am 24. Juli 1933 vollzog er auch formal die Rückkehr zur jüdischen Religion. Zionistische Ideen hatte er schon in den 1920er Jahren vertreten. Nun, angesichts der Nazibrutalität, propagierte er Ideen, die Hellsichtigkeit und neuen Wahn verbinden. Viel früher als die meisten anderen Beobachter erkannte er die Radikalität des Feindes. Er teilte nicht die Illusion, die Nazis würden sich bald mäßigen, und zog schon 1933 die Schlussfolgerung, dass alle Juden, wenn sie ihr Leben retten wollten, Deutschland würden verlassen müssen. Daraus ergab sich für ihn, dass nicht der Kampf gegen den Antisemitismus im Zentrum stehen sollte, sondern ein mit aller Rücksichtslosigkeit geführter nationalreligiöser Kampf für das Judentum. Mittel sollte eine jüdische Einheitspartei sein, in der sonstige weltanschauliche Unterschiede zurücktreten sollten gegenüber dem gemeinsamen Ziel, einen eigenen jüdischen Staat zu erlangen.

Im Sommer 1933 war Schönberg bereit, das Komponieren aufzugeben und fortan als Organisator einer solchen Partei zu wirken. Er versandte Briefe, in denen er die Mittel auflistete, die zum einen eine vorläufige Struktur einer solchen Partei, zum anderen eine jüdische Aussiedlung kosten würde. Auch in den Folgejahren unternahm Schönberg immer wieder Ansätze, dieses Projekt umzusetzen, wobei er der Illusion folgte, es gäbe noch genügend unbesiedelte Plätze auf der Erde, um einen jüdischen Staat zu gründen.

Zum Glück für die Musikgeschichte musste Schönberg nach seiner Emigration in die USA seinen Beruf ausüben, um leben zu können. Das hieß vor allem, zu unterrichten, und dies auch Grundlagen für Anfänger, die er vor 1933 keines Blickes gewürdigt hätte. Wo kompositorisch ein Neuansatz sinnvoll war, folgte ihm Schönberg. So komponierte er gleich nach seiner Ankunft die »Suite für Streichorchester«, um fortgeschrittenen Hochschulorchestern, auf tonaler Grundlage, Spieltechniken Neuer Musik nahezubringen. Unantastbar hingegen war die Integrität der Form: Einem Angebot aus Hollywood, Filmmusik zu schreiben, begegnete er mit der Forderung, dass an seiner Komposition nichts geändert werden dürfe, womit die Sache erledigt war.

Politisch und musikalisch wichtiger als eine am Reißbrett entworfene alljüdische Partei und ein ebensolcher Staat waren die kompositorischen Konsequenzen. Neben dem »Kol Nidre« von 1939 sind vor allem zwei Werke zu nennen: die »Ode to Napoleon Buonaparte« (1942) und »A Survivor from Warsaw« (1947). Hier kam Schönberg unter dem Eindruck aktueller Verhältnisse zu einer ihm zuvor undenkbaren Konkretion. In dem unvollendeten Oratorium »Die Jakobsleiter«, das er vor dem Ersten Weltkrieg skizziert und dessen ersten Teil er größtenteils bis 1917 komponiert hatte, treten expressionistische Typen auf: »Ein Berufener«, »Ein Aufrührerischer«, »Ein Ringender« usw. Sie werden vom Erzengel Gabriel belehrt über ihre Nähe, vor allem ihre Ferne zu Vollendung.

Antifaschismus

Nun aber, angesichts des Zweiten Weltkriegs, waren dergleichen Ausflüchte nicht mehr zu haben. Die Ode an Napoleon, die Schönberg auf einen Text von Lord Byron für Sprecher, Klavier und Streichquartett komponierte, ist nicht das Loblied, das der Titel verspricht. Vielmehr hört man ein Kompendium an Hohn und Verachtung für den einstigen Weltenherrscher Napoleon, der Hunderttausende seinen Plänen opferte, selbst aber nicht in der Schlacht fiel, sondern sich ein mickriges Exil sicherte. Der von Schönberg in vielen Werken geforderte Sprechgesang erlaubt es, zahlreiche Facetten von Spott, Häme und Ironie auszuspielen. Wer – im Jahr nach dem Kriegseintritt der USA – mit Napoleon gemeint war, ist unverkennbar: Hitler. Unverkennbar ist freilich auch Schönbergs Identifikation mit seiner neuen Heimat USA, deren Staatsbürgerschaft er angenommen hatte. Byrons Text endet mit einem Lob George Washingtons als demokratisches Gegenbild.

Fünf Jahre später folgte »A Survivor from Warsaw« für Sprecher, Chor und Orchester. Den Text stellte Schönberg zum Teil aus Berichten von Überlebenden der Schoah zusammen. Auf englisch schildert der Sprecher, wie Deutsche Juden zusammentreiben, um sie zu ermorden. Die deutsche Sprache ist nur noch im brutal-höhnischen Befehlston präsent: »Achtung! Stilljestanden! Na wird’s mal? Oder soll ich mit dem Jewehrkolben nachhelfen? Na jutt; wenn ihr’s durchaus haben wollt!« Die Opfer müssen sich abzählen, aber die Zahlenreihe mündet in einen trotzigen hebräischen Gesang, in der dritten Sprache des Werks. Mit dem »Höre, Israel« endet die Komposition mit einer Anrufung des jüdischen Gottes.

Schönbergs Weg führte von der Kunstautonomie, für die seine radikale Entwicklung nach der Jahrhundertwende stand, zu einem aus dem Kontext der Zeit nachvollziehbaren nationaljüdischen Antifaschismus, dessen zerstörerische Folgen heute täglich sichtbar sind. Die Klammer bildet zunächst ein musikalisches Ethos: das Notwendige zu sagen, dabei nichts Überflüssiges, und ohne Furcht vor den Folgen die als notwendig erkannten Konsequenzen zu ziehen. Grundlage ist der Mut, Neues zu denken. Schönbergs Gehirn konnte nicht anders. Berühmt ist er als Komponist, bekannt als Musikschriftsteller. Begabt war er als Maler, und wenn er gerade sonst nichts zu tun hatte, erfand er ein Schachspiel für vier Personen oder einen Weltfriedensplan, der unter imperialistischen Bedingungen natürlich undurchführbar war, aber immer noch weit durchdachter als das, was die Propagandisten einer »regelbasierten Ordnung« heute verbreiten.

Im kalifornischen Exil unternahm es Schönbergs Schüler Eisler, Bertolt Brecht mit dem Lehrer zusammenzubringen. Eisler war, wie er berichtet, vorsichtig genug, den Freund zu mahnen. Natürlich werde Brecht eine Menge Unfug hören, aber wehe, wenn er darauf so heftig wie gewohnt antworte! Denn er habe es mit einem Großen zu tun.

Kai Köhler schrieb an dieser Stelle zuletzt am 4. September 2024 über den Komponisten Anton Bruckner.

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  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (15. September 2024 um 03:20 Uhr)
    Der Artikel bringt den Lesern von junge Welt viel Wissenswertes über Schönberg nahe, möchte sie jedoch scheinbar nicht erschrecken. Weil wir uns ja gerade wieder in einer ähnlichen Situation befinden, zitiere ich einen Brief Schönbergs, den er 1914 an Alma Mahler-Werfel schrieb: »Jetzt sind mir die Augen geöffnet über so viele meiner Gefühle, die ich gegen Ausländer hatte, meine Freunde wissen es, ich habe es ihnen oft gesagt: Ich konnte nie etwas anfangen mit aller ausländischen Musik. Mir kam sie immer schal, leer, widerlich süßlich, verlogen und ungekonnt vor. Ohne Ausnahme. Jetzt weiß ich, wer die Franzosen, Engländer, Russen, Belgier, Amerikaner und Serben sind: Montenegriner! Das sagte mir die Musik längst. Ich wunderte mich, dass nicht alle so empfinden wie ich. Diese Musik war längst eine Kriegserklärung, ein Überfall auf Deutschland. Aber jetzt kommt die Abrechnung! Jetzt werfen wir diese mediokren Kitschisten wieder in die Sklaverei und sie sollen den deutschen Geist verehren und den deutschen Gott anbeten lernen.« Es findet mit Recht der Antisemitismus Erwähnung, unter dem auch Schönberg zu leiden hatte. Doch sind solche Äußerungen harmloser? Der Autor erwähnt in einem durchweg ehrenden Artikel in einer linken Zeitung diese Einstellungen Schönbergs nicht, der später ein leidenschaftlicher Antikommunist wurde. Das scheint hinter formalen Erörterungen der Struktur seiner Werke zweitrangig zu sein. Sind solche Äußerungen harmloser als ein antisemitischer Aufsatz Wagners? Es handelt sich da eher um das gleiche übertriebene, nationalistische Hervorheben des Deutschen, wegen dem es später eben leider nur wenige »Überlebende von Warschau« gab.

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