Arbeit für alle
Von Felix BartelsEs gibt Bücher, die will man mögen. Der Absicht wegen oder den Autoren zuliebe. Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt betreiben seit 2019 den irgendwo zwischen links und marxistisch rotierenden Podcast »Wohlstand für alle«. Wirtschaftliche, politische und kulturelle Fragen werden dort pointiert und exoterisch behandelt. Erfreulich ist das ganze schon deshalb, weil man linkerhand nur wünschen kann, dass sich marxistisches Denken wieder in die Köpfe verirrt.
Bücher können Nymoen und Schmitt auch. Schmitts Sprünge von der monologischen Filmdeutung zur Wirtschaftstheorie im Dialog und von dort zum Sachbuchbestseller »Influencer« waren klein im Vergleich zum jetzigen Versuch der beiden im epischen Genre. Georg Lukács verzweifelte an Autoren, die den Unterschied zwischen Erzählen und Beschreiben nicht kennen. Die Schlucht zwischen Erzählen und Erklären reicht ungleich tiefer.
Der Autoren Werk heißt »Die kleinen Holzdiebe«, und in der Tat liest es sich recht hölzern. So viel haben sie zu sagen und so wenig zu erzählen. Woran also soll man sie messen? Mit genuiner Epik haben wir es hier nicht zu tun, vielmehr mit einem Essay, episch gewandet. Man spart folglich Zeit, wenn man sich gleich auf die Botschaft konzentriert. Zumal die Stärke der »Holzdiebe« gewiss nicht im Handwerklichen liegt. Eine Story darf durchaus was bedeuten, es sollte aber nicht allein die Bedeutung sein, die das Ganze zusammenhält. Die Story muss für sich als anschauliche Schilderung von Begebenheiten funktionieren, nicht erst dann, wenn man sie entschlüsselt hat. Hinzukommt, dass die Autoren neben der Erzählebene auch die Gestaltungsebene vernachlässigen. Oft funktioniert das situative Schreiben nicht, räumliche und zeitliche Strukturen werden immer wieder aufgelöst. Erzählung vermittelt Geschehen so, dass dem Leser Handlungen in einem Raum plastisch vor Augen stehen. Zu lesen etwa, wie ein Junge erst einem aufs Dorf zurollenden Wagen hinterherrennt, dann losrennt, die Dorfbewohner zu warnen, und dann wieder dem Wagen hinterherrennt, der die ganze Zeit seine Richtung nicht geändert hat, ergibt räumlich keinen Sinn. Und auch sprachlich stolpern die »Holzdiebe« geduldig über jeden herumliegenden Ast. Da wird eine »Landschaft von Häusern unterbrochen«, ein Gefährt »bleibt reglos stehen«, ein Hügel ist »von dichten Bäumen umgeben«, ein Junge läuft »daneben her« usw. Wenig geübt zu sein in einem Genre ist keine Schande, bloß wozu gibt es Lektoren?
Die Story sei rasch angerissen. Karl und Rosa führen mit ihren Eltern das harte, doch beschauliche Leben freier Bauern in vorindustrieller Zeit. Die Insel, auf der sie leben, heißt Feudalia. Gütig herrscht eine Königin, bei großer Not ist der Staat für seine Leute da. Eines Tages erscheint Herr Haupt, der der benachbarten Insel Capitalia vorsteht. Eine Brücke soll beide Inseln verbinden, der Wald wird privatisiert, Holzsammeln verboten, die Bauern müssen in die Stadt ziehen, wo sie für einen Hungerlohn an Maschinen schuften, doch allenthalben wächst die Wirtschaft. And I guess that’s why they call it the Fortschritt, denn die meisten Menschen haben kaum was vom neuen Reichtum, anstelle von Wohlstand für alle gibt es Arbeit für alle. Die Fabriken laufen unerbittlich, die in ihnen Arbeitenden sind ihrem Takt unterworfen. Karl und Rosa beginnen sich Fragen zu stellen.
Der weitere Verlauf kann nachgelesen werden, man soll ja nicht spoilern, und das »Rätsel des Juggernaut«, das der Alternativ titel benennt, lässt sich auf den ersten Seiten schon lösen, so klar steht dieser große Wagen als beräderte Metapher auf der Szene (und so bekannt ist die Stelle in Marxens »Kapital«, auf die das Wort verweist). Wie eigentlich alles an diesem Buch durchsichtig scheint. Auf jeder Seite merkt man, dass die Autoren dem Leser was sagen wollen, was sie ihm sagen wollen und selbst, warum sie es ihm sagen.
Da stört dann kaum noch, dass viele Namen enervierend plakativ gewählt sind. Karl und Rosa sollen natürlich auf Liebknecht und Luxemburg weisen, auch wenn die Geschichte nichts aus dieser Anspielung macht. Ein anderer Karl, später im Werk, wird überdeutlich auf Marx gekämmt. Die Inseln Feudalia und Capitalia sprechen für sich. Etwas witzig immerhin, dass der Präsident von Capitalia »Haupt« heißt, die Kette der Assoziation macht mehr Spaß als die übrigen sprechenden Namen: Haupt – Kopf – caput – Kapital. Schließlich der Titel des Buchs, eine unverhohlene Anspielung auf jenen berühmten Artikel, den der junge Marx im Oktober 1842 in der Rheinischen Zeitung veröffentlichte: »Debatten über das Holzdiebstahlgesetz«. Wer möchte da nicht weiterlesen?
Gewiss sollte man ein Kinderbuch wie ein Kinderbuch behandeln. Wenn es anders allerdings seinen didaktischen Charakter kaum verbirgt und als Welterklärung für Kinder auftritt, dürfen seine Thesen geprüft werden. Was Nymoen/Schmitt vorhatten, war, die Geschichte des kapitalistischen Akkumulationsprozesses zu erzählen. Was herauskam, ist eine Geschichte, die sich so nie ereignet hat.
Am Beginn der Erzählung besorgen die Menschen ihr tägliches Leben nach den Verhältnissen der einfachen Warenproduktion, zum Teil auch in Subsistenzwirtschaft. Freie Bauern sind sie allemal. Natürlich gab es dergleichen in der Epoche des Feudalismus, unter anderem. Doch die Autoren, die ihre Insel »Feudalia« nennen, bringen fertig, einen Feudalismus ohne Leibeigenschaft, ja nicht einmal mit hörigen Bauern zu beschreiben. Feudalistisch wäre allenfalls die Staatsabgabe, die der Königin gezahlt werden muss. Sie wird im Buch als »Zehnt« bezeichnet, scheint aber eher dem zu entsprechen, was man heute Einkommenssteuer nennt. Der Staat vergilt die Abgabe mit Hilfe im Fall von Missernten, dominus providebit. Weder die Willkür der feudalen Klasse noch die Zersplitterung der feudalen Gesellschaft in partikulare Gewalten werden abgebildet, kein Bauernlegen, keine Schuldknechtschaft, keine Zunftfesseln, kein Lehenswesen, keine weltlich-kirchliche Doppelherrschaft und eigentlich nichts von all dem, was die ursprüngliche Akkumulation im späten Feudalismus vorangetrieben hat.
Entsprechend tritt der »Kapitalismus« genannte Fortschritt nicht als Entwicklungsform der Produktivkräfte auf, er wird vielmehr von oben und außen installiert. Feudalia schließt einen Vertrag mit der Nachbarinsel Capitalia. Der Wald, der zuvor offenbar allen gehörte, wird privatisiert. Auch das ist historisch Unsinn, denn die freie Nutzung der Wälder im Mittelalter und den Epochen davor war kein Ausdruck vergesellschafteter Produktionsverhältnisse, sondern eines weniger entwickelten Stands der Produktivkräfte. Die Gesellschaft konnte rein technisch noch nicht auf die weiten Landschaften zugreifen, sie zur Besiedlung verteilen, roden, urbar machen, kurz: kultivieren. So stellen »Die kleinen Holzdiebe« einen Vorgang als Enteignung dar, der eigentlich eine besondere Form von Aneignung ist, der der Natur durch den Menschen nämlich. Feudalias Bewohner jedenfalls müssen in die Stadt ziehen, wo es ihnen schlechter geht.
So sieht man den Kapitalismus dämonisiert und den Feudalismus beschönigt. Die Dialektik des »doppelt frei« wurde in diesem Buch simpel liquidiert. Marx hat sie eben daran festgemacht, dass die Bewegung der Landarmut hin zur Stadtarmut einen Befreiungsakt im widersprüchlichen Sinn bedeutet: Die der Leibeigenschaft entronnenen Tagelöhner der Stadt wurden rechtlich frei, aber auch frei von Produktionsmitteln. Zugestanden, »Die kleinen Holzdiebe« sind ein Buch für ältere Kinder und jüngere Teenager, doch wäre es wirklich so überfordernd gewesen, den Fortschritt als zugleich menschlich und unmenschlich zu beschreiben? Wie Schmitt und Nymoen die Sache anpacken, verwandelt Marx sich in Rousseau, und auch wenn das Buch hinten raus bemüht scheint, den Kampf der Arbeiterklasse als Ausweg zu präsentieren, gleicht die Kapitalismuskritik, die wir da sehen, ihrem Wesen nach derjenigen der romantischen Epoche. Auch bei Tieck nämlich konnte man diese Art Halbheiten schon lesen, nur halt schöner geschrieben.
Ole Nymoen/Wolfgang M. Schmitt: Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut. Insel-Verlag, Frankfurt am Main 2024, 268 Seiten, 18 Euro
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