Alles verschwendet, alles vergiftet
Von Norman PhilippenDer Ort ihrer Aufnahme hinterlässt auf Alben immer Spuren. Dave Grohls Schlagzeug klänge auf Nirvanas »Nevermind« wohl weniger wuchtig, wäre die Platte 1991 nicht im legendären Sound City Studio in Los Angeles von Butch Vig produziert worden. Und würde Foo Fighters »Wasting Light« (2011) sich wie gewollt nach den Foo Fighters anhören, die nach einer Garagenband der frühen 90er Jahre klingen wollten, hätte Grohl nicht Band und Vig für die Aufnahmen in seine Garage geholt? Mir egal.
Dass Die Nerven ihr sechstes Album in der »Zirbelstube« eingespielt haben, war jedenfalls auch für »Wir waren hier« keine irrelevante Lokalwahl. Eine passende zudem, nicht nur ob der Wände wie Decken schmückenden Zirbelholzvertäfelung, die den Glanz des Unwiederbringlichen bereits zu Zeiten vorspiegelte, nach denen die Noiserock-Band zu klingen sich anschickt. Das Restaurant des Fünf-Sterne-Hauses »Althoff-Hotel am Schlossgarten« in Stuttgart zählte einst zu den feinsten gastronomischen Adressen der Stadt, war der Nach-uns-die-Sinnflut-Schickeria eine Institution des Überflusses und der dekadenten Weltflucht zuträglichen hochpreisigen Nervengifte.
Das passt prima, da das Leitmotiv des neuen Albums der »Band, die Stuttgart cool gemacht hat« (Stuttgarter Nachrichten), laut Presseheft nämlich die »Schande der Verschwendung und der rücksichtslosen Vergiftung der Welt« ist. Zwar trägt die »Zirbelstube« an der allgemeinen Weltvergiftung sicher keine so große Schuld, doch ist der Kosmos des 2022 endgültig geschlossenen Etablissements so irreversibel untergegangen wie – lauscht man der »Wir waren hier«-Eschatologie – der Menschenzug Richtung Endstation rast. Genauer: raste. »Auf der Flucht vor der Wirklichkeit ist mir kein Weg zu weit«, mag Max Rieger im Opener »Als ich davonlief« noch behaupten. Drei Songs später kann keiner mehr weglaufen, lautet die traurige Diagnose: »Wir waren hier / Keine Pflanze, kein Tier / War so wertvoll wie wir« (»Wir waren hier«). Während die Welt untergeht, nehmen zwar Die Nerven »die letzten Stunden fette Jahre gerne mit«, doch ist es dem ekstatischen Eskapismus hinderlich, wenn – »Ich steh’ in der Eck / Nehm’ noch einen Sekt / Ertränke meine Angst / Ich trink’ sie einfach weg« – das Rätsel Mitmensch doch nur nervt und ängstigt: »Warum hab’ ich Angst, aber du nicht?« (»Das Glas zerbricht und ich gleich mit«).
Angst ja, Trauer um Verlorenes nicht, auch nicht darum, dass man mal »Achtzehn« war, sondern im Gegenteil: »Ich will nie mehr achtzehn sein / Ein Hoch auf die Jugend / Zum Glück ist sie vorbei.« Mit dem Song bringen die »Noise-Post-Punks« (Visions) nicht nur erneut Streicher, sondern gleich auch eine Referenzband ins Spiel, mit der Die Nerven als »eine der wichtigsten und besten Bands Deutschlands« (Rolling Stone), wenn nicht gar »beste Post-Punk-Band in der gesamten NATO« (Jan Böhmermann) noch nicht verglichen worden. »Achtzehn« klingt nach einer deutschen Band, deren Mitglieder noch gar nicht geboren waren, als Ian Curtis von Joy Division, an die »Das Glas zerbricht und ich gleich mit« sehr erinnert, schon tot war. Nach der auch längst toten Teenieband Echt nämlich, die den Song genausogut hätte wuppen können, wären Kim und die Jungs noch ein paar gemeinsame Jährchen vergönnt gewesen.
Zehn Jahre schon stehen Die Nerven nun in unverbrüchlicher Gunst der meisten U-Musikredakteure Deutschlands, und es hört sich nicht danach an, als würden sie mit »Wir waren hier« Gefahr laufen, diese zu verspielen. Ob das Album wirklich wieder »ein Postpunk-trifft-Schmerz-Wunderwerk« ist, wie das auf soundsandbooks.com steht, sollen solcherlei Wunderwerke Bewundernde entscheiden. Musikalische Formeln, die 1984 auf offene (Feuilletonisten-)Ohren stießen, feiern hierzulande seit zehn Jahren allemal gute Erfolge. Eine gute Entscheidung von Die Nerven war es so oder so, die Platte live einzuspielen. Stehen sie doch nicht nur im Rufe, eine der schlechtgelauntesten, sondern gleich die »beste Liveband des Landes« (Taz) zu sein. So konnte dann laut Label Glitterhouse »die Spontanität ihres Zusammenspiels auf der Bühne, das Stop-and-Go ihrer Improvisationen, die Lust an der gegenseitigen Überraschung und schließlich: die kollektive Entäußerung in die Katharsis« so eingefangen werden wie nie zuvor in der Bandgeschichte.
Ob es für ein Tonarbeitertrio ratsam oder überhaupt möglich ist, sich während des Produktionsprozesses ins Kathartische zu entäußern, könnte mal wer bei Marx nachgucken. Muss aber keiner, um »Als wir hier waren« zum Beispiel mittelgut zu finden. Wendete man übrigens das Wort von der Architektur als verfestigte Musik auch auf Innenausstattung an, das ungemütliche Album könnte man sich gut auf Zirbelholzplatte gepresst vorstellen.
Die Nerven: »Wir waren hier« (Glitterhouse/Indigo)
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